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Inhaltsverzeichnis
- 1. Zur biblischen Semantik des Wortfelds der »Gerechtigkeit«
- 2. Grundthese des Paulus und Deutungsansätze
- 2.1 »Werkgerechtigkeit« (Rudolf Bultmann, Günter Bornkamm)
- 2.2 Nichterfüllung der Tora (Ulrich Wilckens, Helmut Merklein)
- 2.3 Apokalyptische Weltenwende (James L. Martyn)
- 2.4 Universalität des Heils (E.P. Sanders, James D.G. Dunn)
- 2.5 »Paul within Judaism« – unterschiedliche Heilswege für Juden und Heiden (John Gager, Paula Fredriksen)
- 2.6 »Werke des Gesetzes« (ἔργα νόμου)
- 3. Das bleibende Problem: »Was soll nun das Gesetz?« (Gal 3,19)
- 4. Der Glaube
B. Ausgangstext: Röm 1,18–3,31
- 1. Kontext
- 2. Aufbau
- 3. Auslegung
- 1,16f.: Die Leitthese
- 1,18–32: Die Verlorenheit der Heiden
- 2,1–16: Der Maßstab von Gottes Gericht ist für alle gleich
- 2,17–29: Toraübertretung als Aufhebung der Beschneidung
- 3,1–8: Zwischenbemerkungen
- 3,9–20: Alle sind »unter der Sünde«
- 3,21–26: Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Christus
- 3,27–31: Der eine Gott aller Menschen
- Rückblick: Der sachliche Grund für das Bild von der »sündigen Menschheit«
A. Thematische Perspektiven
1. Zur biblischen Semantik des Wortfelds der »Gerechtigkeit«
- Gerechtigkeit als Verhältnisbegriff: bezogen auf Verhalten, das einem Gemeinschaftsverhältnis entspricht und dieses fördert; meist auf das Verhältnis JHWH-Israel gerichtet.
- Gottes heilschaffende Gerechtigkeit: bezogen auf einzelne Taten wie auch auf einen Zustand, Gottes Gerechtigkeit als die Instanz, die sein rettendes Eingreifen verbürgt.
- Gerechtigkeit des Menschen: Tun der Gebote Gottes, mit der Folge, in einem Zustand der Gerechtigkeit zu sein. Gerecht sein heißt nicht: perfekt sein. Entscheidend ist, sein Leben an Gott und seiner Tora auszurichten.
- Unterschiedliche Bestimmungen des Zusammenhangs von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit in biblischer Tradition / In Qumran-Schriften wird die Vorstellung von der Rechtfertigung des Sünders bezeugt / keine universalen Tendenzen in atl-jüdischer Tradition in Verbindung mit der Gerechtigkeit.
2. Grundthese des Paulus und Deutungsansätze
Grundthese: Der Mensch wird gerechtfertigt (=in das rechte Verhältnis zu Gott gebracht) nicht durch Werke des Gesetzes, sondern durch Glauben an Jesus Christus (Gal 2,16; Röm 3,28).
Entscheidende Frage: Warum wird die Rechtfertigung für Werke des Gesetzes ausgeschlossen? Dazu lassen sich mehrere Deutungsansätze erheben:
Inhaltsverzeichnis
- 2.1 »Werkgerechtigkeit« (Rudolf Bultmann, Günter Bornkamm)
- 2.2 Nichterfüllung der Tora (Ulrich Wilckens, Helmut Merklein)
- 2.3 Apokalyptische Weltenwende (James L. Martyn)
- 2.4 Universalität des Heils (E.P. Sanders, James D.G. Dunn)
- 2.5 »Paul within Judaism« – unterschiedliche Heilswege für Juden und Heiden (John Gager, Paula Fredriksen)
- 2.6 »Werke des Gesetzes« (ἔργα νόμου)
2.1 »Werkgerechtigkeit« (Rudolf Bultmann, Günter Bornkamm)
Paulus lehnt Gerechtigkeit aus Werken des Gesetzes deshalb ab, weil das Heil ein Geschenk Gottes ist (Gnade), das der Mensch unter keinen Umständen aus eigener Kraft erwerben kann. Das Tun von Gesetzeswerken ist der Versuch, selbst für seine Stellung vor Gott aufzukommen, ist Drang nach Selbstruhm, anstatt sich das Heil von Gott schenken zu lassen.
Argumente pro: Vertreter dieser Position beziehen sich auf Aussagen über das Rühmen und »eigene Gerechtigkeit«: Haltungen vor Gott, die von Paulus als Ausdruck falschen Selbstbezugs zurückgewiesen werden.
Aber:
- In den Paulusbriefen ist der Sinn von »Rühmen« kontextabhängig. Im Zusammenhang der Rechtfertigungstheologie ist nicht an Selbstruhm gedacht, sondern an die Sonderstellung Israels (Röm 3,27 mit Rückbezug auf 2,17); in Röm 4,2–5 ist das Rühmen deshalb ausgeschlossen, weil Abrahams Glaube mit dem Tun von Gesetzeswerken nichts zu tun hat, nicht weil er als geschuldeter Lohn ausgeschlossen werden sollte.
Zwar liest sich der Text zunächst so, als ginge es um die Gegenüberstellung der Zurechnung von Lohn aufgrund von Leistung oder aufgrund von Gnade. Es heißt in Röm 4,4: »Dem Arbeitenden/Werke Tuenden (τῷ ἐργαζομένῳ) wird der Lohn nicht nach Gnade angerechnet, sondern nach Schuldigkeit.« Nachfolgend erscheint aber nicht das Gegenteil dieses Satzes, also etwa: Dem nicht Arbeitenden/nicht Werke Tuenden wird Lohn nicht zugerechnet, es sei denn aus Gnade. Vielmehr heißt es: Dem nicht Arbeitenden/nicht Werke Tuenden wird sein Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet (4,5). Der Gegensatz Gnade/Schuldigkeit wird in V.5 nicht aufgenommen, auf ihn läuft also der Gedanke nicht zu. Entscheidend ist die Verbindung »nicht arbeitend/Werke tuend« und »Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit«. Der Glaube wird dort angerechnet, wo nicht »Werke getan werden«. Dies ist am Gen-Zitat in V.3 orientiert: Abraham wurde der Glaube zu Gerechtigkeit angerechnet, dann kann es nicht aufgrund von Werken geschehen sein. - Bei Aussagen zur »eigenen Gerechtigkeit« (Phil 3,9; Röm 10,3) ist nicht zu erkennen, dass der Fehler jener Gerechtigkeit darin läge, dass sie selbst gewirkt sei
- Die »Werkgerechtigkeit« kann als religiöse Haltung historisch nicht im zeitgenössischen Judentum verortet werden. Früher glaubte man, in der pharisäischen Frömmigkeit die Position zu erkennen, von der sich die paulinische Rechtfertigungstheologie absetzte. Dies ist heute als Fehlurteil erkannt. Wovon sich Paulus mit seiner Rechtfertigungstheologie abgesetzt haben soll, ist in der Zeit des Paulus historisch nicht belegt.
2.2 Nichterfüllung der Tora (Ulrich Wilckens, Helmut Merklein)
Das Gesetz führt deshalb nicht zum Heil, weil es faktisch nicht getan wird. Ein Leben nach dem Gesetz würde zum Heil führen. Das Problem ist nicht der Versuch, durch Gesetzeserfüllung Gerechtigkeit zu erlangen (nach dem obigen Ansatz in 2.1 ist das Sünde), sondern die Tatsache, dass die Gesetzesforderung nicht erfüllt wird. Weil das Gesetz Gerechtigkeit nur dem zuspricht, der seine Forderung erfüllt, kann es den Sünder nicht rechtfertigen. Und wo das Gesetz gilt, ist der bereits Sünder, der es einmal übertreten hat.
Argumente pro: Der Gedankengang in Röm 1–3 hebt darauf ab, dass die Menschheit universal unter der Macht der Sünde steht und auch das Gesetz aus dieser Situation nicht befreien kann: Israel hat das Gesetz, tut es aber nicht. In Gal 3,10 wird deutlich, dass Paulus voraussetzt, dass die Tora nicht gehalten wird.
Aber:
- Röm 1–3 bietet zwar starke Anhaltspunkte für dieses Modell, der Galaterbrief aber überhaupt nicht, das Verb »sündigen« kommt hier nicht vor: Es geht in erster Linie um das Gesetz als versklavende Macht, die die in Christus gewonnene Freiheit vernichtet, aber nicht darum, dass der Mensch an der Forderung der Tora scheitert (auch nicht in 3,10; s.u.). Deshalb ist es schwierig, hier den Ansatzpunkt der paulinischen Rechtfertigungstheologie zu erkennen.
- Gal 3,10 setzt den Gedanken des faktischen Scheiterns an der Gesetzeserfüllung nicht voraus. Es heißt dort: »Alle, die aus Gesetzeswerken sind, sind unter einem Fluch, denn es steht geschrieben: ›Verflucht ist jeder, der nicht bleibt bei allem, was geschrieben ist im Buch des Gesetzes, um es zu tun.‹« Nur wenn man »unter einem Fluch« im Sinne von »verflucht« versteht, belegt der Satz den genannten Gedanken. Dazu besteht aber kein Anlass: Wendungen mit der Präposition »unter« (ὑπό + Akk.) geben im Galaterbrief eine Macht an, der man unterstellt ist. Es geht also um die Androhung eines Fluches, nicht um eine Aussage, die das Verfluchtsein bereits feststellt und deshalb von der Übertretung des Gesetzes ausgehen müsste. Diese Auslegung nimmt die unterschiedliche Auslegung zwischen Gal 3,10a (»unter einem Fluch«) und 3,10b (»verflucht«) ernst. Außerdem kann sie erklären, warum Paulus in 3,11f. ausführt, dass niemand durch das Gesetz gerechtfertigt wird: Er hat das nämlich in 3,10 noch nicht gesagt.
2.3 Apokalyptische Weltenwende (James L. Martyn)
Im Zusammenhang der Deutung paulinischer Theologie im Rahmen apokalyptischer Theologie wird die Rechtfertigungstheologie in das Muster der Weltenwende eingeordnet, die sich in Christi Tod und Auferstehung ereignet hat. Die Gegensätze, die in diesem Äon gelten – Juden/Heiden, Sklaven/Freie, Mann/Frau –, sind in der neuen Welt Gottes aufgehoben. Es entstehen neue Antinomien: Fleisch/Geist, Gesetz/Glaube. Die Tora gehört der alten Welt an, aus der der Mensch befreit ist. Rechtfertigung ist Befreiung von den Mächten, die diesen Äon beherrschen. Sie gründet in der πίστις Χριστοῦ, die nicht als »Glaube an Christus« zu verstehen ist, sondern als »Treue Christi«. Durch sie, nicht durch Toragehorsam, ist der Zugang zum neuen Äon eröffnet.
Argumente pro: Das Modell ist wesentlich im Zusammenhang der Auslegung des Galaterbriefs entstanden, der gleich zu Beginn vom Herausreißen aus »diesem bestehenden bösen Äon« spricht (Gal 1,4) und den Gedanken der Befreiung durch Christus stark macht.
Aber:
- In gewissem Sinn besteht hier dasselbe Problem wie beim zuvor besprochenen Ansatz, nur in umgekehrter Zuordnung: Am Galaterbrief kann man starke Ansatzpunkte finden, dagegen keine in den rechtfertigungstheologischen Ausführungen des Römerbriefs. Dass die Aussagen zur Rechtfertigungstheologie in der apokalyptischen Sicht gründen, ist also unwahrscheinlich.
- Auch fragt sich, ob die Zuordnung der Tora zur alten Welt einen zu scharfen Schnitt erkennt. Warum müht sich Paulus so stark um die theologische Einordnung der Tora, wenn sie einfach der alten, vergangenen Welt zugehört?
2.4 Universalität des Heils (E.P. Sanders, James D.G. Dunn)
Gesetzeswerke führen deshalb nicht zur Gerechtigkeit, weil die Tora nur den Juden gegeben ist, Paulus aber der Überzeugung ist, dass das in Christus eröffnete Heil nicht auf Israel beschränkt ist. Das in Christus eröffnete Heil gilt allen gleichermaßen und in gleicher Weise, Juden und Heiden. Käme Gerechtigkeit aus Gesetzeswerken, wären die Heiden vom Heil ausgeschlossen oder es wäre ihnen eine zum Glauben hinzutretende Bedingung auferlegt. Die Rechtfertigungstheologie ist die theologische Theorie der Heidenmission.
Argumente pro: kontextuelle Einbettung der Rechtfertigungsaussagen. Paulus schlägt die Sprache der Rechtfertigungstheologie fast ausschließlich dort an, wo es um den Einschluss der Heiden ins Heil geht.
- Im Fall des Galaterbriefes ist dies eindeutig durch die Situation, in der der Brief entstanden ist: Paulus verteidigt sein Projekt der Heidenmission gegen die Forderung, die heidenchristlichen Galater müsste sich der Tora unterstellen.
- Im Römerbrief ist die ganze Argumentation in Kap. 1–3 gerahmt von der Aussage, dass die Rettung Juden und Heiden gilt (1,16; 3,29f.). Entsprechend zielt Paulus auch in seinem Gedankengang darauf, das Vorrecht der Juden vor den Heiden zu bestreiten (2,10f.14–16; 3,9.27). Und der Bezug auf Abraham in Röm 4 soll zeigen, dass Abraham Vater aller Glaubenden ist, der Beschnittenen wie der Unbeschnittenen (4,11f.). Auch im Röm ist die Entfaltung der Rechtfertigungstheologie also davon geprägt, den Einschluss der Heiden als Heiden in das Gottesvolk zu begründen.
Die hier vertretene Position basiert auf diesem Ansatz, Einwände sind formuliert worden gegen manche Einzeldeutungen (z.B. zu den »Werken des Gesetzes«, s.u.) oder religionsgeschichtlichen Einordnungen (Erhebung der paulinischen Position im Zusammenhang mit dem Konzept eines »Bundesnomismus«). Grundsätzlich scheint dies aber der Deutungsrahmen zu sein, der den paulinischen Ausführungen im Ganzen am besten gerecht wird.
2.5 »Paul within Judaism« – unterschiedliche Heilswege für Juden und Heiden (John Gager, Paula Fredriksen)
Nach diesem Ansatz richten sich die rechtfertigungstheologischen Ausführungen des Paulus allein auf Heiden (in gewissem Sinn eine Radikalisierung des vorherigen Ansatzes). Die negativen Aussagen über das Gesetz – seine versklavende Wirkung, der Ausschluss von Rechtfertigung durch »Werke des Gesetzes« – zielen nicht auf Juden. Für sie ist der Toragehorsam weiterhin notwendig. Die Position kann so zugespitzt werden, dass die Heiden, um die prophetischen Verheißungen zu erfüllen, als Heiden in der Endzeit zu Verehrern des Gottes Israels werden müssen. Gerade als der jüdischen Tradition verpflichteter Jude schließt Paulus Beschneidung und Toragehorsam für Heiden aus. Von Israel erwarte Paulus also nicht die Abkehr von der Tora, sondern das Handeln Gottes zugunsten der Heiden oder (den wiederkehrenden) Christus als Ziel der Tora anzuerkennen.
Argumente pro: Kontext des Wirkens des Paulus
Er verkündet programmatisch das Evangelium unter Heiden und richtet seine Briefe, in denen er sich rechtfertigungstheologisch äußert, an Heidenchristen. Dass er Jude war und den Rahmen des Judentums nie aufgegeben hat, wird von diesem Ansatz am konsequentesten berücksichtigt.
Aber: Es fehlt diesem Ansatz an positiver textlicher Evidenz, außerdem lassen sich einige Passagen in den Paulusbriefen nicht mit ihm in Einklang bringen.
- Dass Paulus bei seinen Aussagen zu Rechtfertigung und Gesetz in Röm 1–3 ausschließlich Heiden im Blick hat, macht er an keiner Stelle deutlich. 2,17–29 lässt sich nicht nur auf Proselyten (zum Judentum konvertierte Heiden) beziehen; 3,9 zielt mit seinem Bezug auf »Juden und Heiden« universal auf die Menschheit unter der Sünde (s.a. 3,22f.).
- Nach 1Kor 9,20 will Paulus auch Juden gewinnen, das Christusbekenntnis ist für Israel also nicht gleichgültig. Die mühevolle Argumentation in Röm 9–11 hätte sich Paulus sparen können, wenn Israel nur weiter auf dem Weg der Tora gehen müsste.
- Warum sollte Paulus die Frage nach dem Sinn des Gesetzes stellen (Gal 3,19) und im Folgenden negativ beantworten, wenn seine torakritische Perspektive allein Heiden im Blick hat. Die Frage »was soll nun das Gesetz?« stellt sich, wenn die Bedeutung der Tora grundsätzlich zur Debatte steht.
- In Phil 3,7f. zeigt Paulus, dass das Bekenntnis für Christus sein Verhältnis zur Tora grundstürzend verändert hat. Wohl nicht zufällig wird diese Passage in Arbeiten zu »Paul within Judaism« gewöhnlich übergangen.
2.6 »Werke des Gesetzes« (ἔργα νόμου)
Der genaue Sinn der Wendung »Werke des Gesetzes« (ἔργα νόμου) ist umstritten. Zwei Fragen werden diskutiert:
- Sind die »Werke des Gesetzes« bezogen allgemein auf das von der Tora vorgeschriebene Tun oder nur auf jene Handlungen, die die Identität Israels sichern (Sabbat, Beschneidung, Reinheitsgebote)? Eine Beschränkung auf die zweite Möglichkeit wird kaum noch vertreten, zumal da James Dunn, der diese Deutung vorgeschlagen hatte, nach eigener Aussage dies nicht exklusiv verstanden wissen wollte: Beschneidung und Speisegebote seien nicht als einzige Tora-Werke zu definieren, sondern nur als die entscheidenden Testfälle, an denen sich die Loyalität zum Bund erweist.
- Sind die »Werke des Gesetzes« bezogen auf Handlungen oder Regelungen? Meist wird die Frage im ersten Sinn beantwortet, doch eine Minderheitenposition, die gute Gründe vorbringen kann (z.B. M. Bachmann), deutet die »Gesetzeswerke« als »Gesetzesvorschriften«.
Dass ἔργον diesen Sinn annehmen kann, ergibt sich aus frühjüdischen Texten, in denen das Substantiv am besten mit »Vorschrift« zu übersetzen ist (LXXEx 18,20; syrBar 57,2; 4Esra 7,24; TestLev 19,1). Dies gilt auch für den Text aus Qumran, der die einzige sprachliche Parallele zu ἔργα νόμου bietet (4QMMT): »Und auch wir haben an dich geschrieben etliches von den Tora-Vorschriften (Werken), die wir als gut für dich und dein Volk befunden haben … « Aus den Paulusbriefen sei nur verwiesen auf Gal 3,5 und 3,10, wo sich die Übersetzung mit »Gebot« eher empfiehlt als die mit »Werk«.
Trifft diese Deutung zu, ist der in 2.4 vorgestellte Deutungsansatz insofern gestärkt, als er nicht beim Tun ansetzt.
3. Das bleibende Problem: »Was soll nun das Gesetz?« (Gal 3,19)
Für die paulinische Rechtfertigungstheologie stellt sich die Frage: Warum wurde die Tora gegeben, wenn Gott doch durch Christus retten wollte?
- Die Antwort auf die Frage aus Gal 3,19 (»Was soll nun das Gesetz?«) ist im Rahmen dieses Briefes kaum sicher zu deuten.
- Die Tora wurde »um der Übertretungen willen hinzugefügt«. Manche Ausleger deuten positiv: Die Tora sorgt für ein einigermaßen geregeltes Miteinander; oder: Sie stellt Sühnemittel bereit.
- Aber: Zur Tora finden sich im Galaterbrief nur negative Aussagen (Tora als versklavende Macht, ohne dass diese Wirkweise geklärt würde), eine positive Zielbestimmung wird nur im Blick auf den Glauben gegeben: Mit dem Kommen Christi ist die Gefangenschaft unter der Tora beendet. Die Antwort des Paulus meint also eher: Die Tora wurde gegeben, um Sünde hervorzurufen oder um wegen der Sünde zu verdammen.
- In Röm 7 liest man zwar nuanciertere Aussagen, sie führen aber nicht zu einer positiven Bestimmung der Tora: Die Sünde benutzt das Gebot, so dass das Gesetz die Übertretungen letztlich vermehrt (VV.7–13); der Mensch ist in seiner Schwachheit (»Fleisch«) nicht in der Lage, das als richtig Erkannte auch zu tun (7,14–25).
⇒ Letztlich gibt Paulus eine anstößige Antwort: Die Tora wurde gegeben, um Sünde als Sünde erkennbar zu machen, ohne aber aus ihrer Macht befreien zu können.
Paulus kann dennoch von der Erfüllung des Gesetzes sprechen.
Für die Zeit nach dem Kommen Christi gelten insofern andere Voraussetzungen, als Gott durch die Sendung des Sohnes die Sündenmacht »im Fleisch verurteilt« (Röm 8,3) und mit der Gabe des Geistes die Glaubenden in die Lage versetzt hat, die Rechtsforderungen der Tora zu erfüllen. Allein jene Gebote sind relativiert, die die Einheit von Juden und Heiden in einer Gemeinde einschränken würden. Nächstenliebe aber gilt als Erfüllung der Tora (Röm 13,8–10; Gal 5,14).
4. Der Glaube
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4.1 Glaube als Gehorsam
Paulus definiert »Glaube« nicht, er spricht vom Glauben nicht abstrakt, im Sinne einer frommen Haltung, sondern mit Bezug auf einen Inhalt (glauben an …; glauben, dass …). Am besten lässt sich der Begriff als »Gehorsam« fassen (s.a. die Wendung: »Gehorsam des Glaubens«), Glaube ist Antwort auf das Handeln Gottes in Christus (Glaube immer mit inhaltlichem Bezug, nicht unbestimmt eine Haltung bezeichnend).
4.2 Abraham als Stammvater der Glaubenden (Gal 3; Röm 4)
Gen 15,6 ist neben Hab 2,4 für Paulus der Schriftbeleg für den Zusammenhang von Glaube und Gerechtigkeit: »Abraham glaubte Gott und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet.« Abraham ist dabei nicht nur ein Beispiel für Glaubensgerechtigkeit: Nachkommenschaft Abrahams bemisst sich am Glauben, Abraham ist Stammvater der Glaubenden (Gal 3,6–9).
- Im Gal bleibt unbegründet, dass die im Glauben begründete Nachkommenschaft Abrahams über Israel auf die Völker hinausreicht.
Die Folgerung aus dem Gen-Zitat in Gal 3,7 (»die aus Glauben sind Söhne Abrahams«) geht über den zuvor zitierten Text hinaus. Das Werk des Paulus ist auch die Verbindung der Stichworte Glauben und Segen in V.8. Das Mischzitat aus Gen 12,3;18,18 verbindet Abraham, Segen und Völker. Das Stichwort des Glaubens begegnet nur in der Einleitung des Zitats.
- Röm 4 füllt diese Lücke: Die Glaubensgerechtigkeit kann nicht auf den Raum der Beschneidung eingegrenzt bleiben, denn Abraham ist der Glaube als Gerechtigkeit zu der Zeit angerechnet worden, als er noch nicht beschnitten war. Von der Beschneidung Abrahams wird erst in Gen 17 erzählt.
- Der Text bestätigt die Bestimmung des Glaubens als Gehorsam: Der Glaube Abrahams richtet sich auf die von Gott gegebene Verheißung und hält an ihr fest gegen allen Augenschein. Der Glaube ist gehorsame Antwort auf den Ruf Gottes.
- Außerdem fällt auf: Der Glaube Abrahams wird so formuliert, dass sich leicht ein Überstieg zum Glauben der Christen ergibt: bezogen auf die Überwindung einer Todesgrenze (4,19: sein und Saras Leib war schon erstorben), wie dies nachfolgend auch für das Christusbekenntnis festgehalten wird (4,24).
B. Ausgangstext: Röm 1,18–3,31
1. Kontext
Der auszulegende Textzusammenhang steht am Beginn des Briefkorpus. Nach umfangreichem Präskript (1,1–7) und einem Proömium üblicher Länge (1,8–15) folgt die Leitthese in 1,16f., an die der auszulegende Text unmittelbar anschließt. Sie wird in die nachfolgende Auslegung aufgenommen. Vor allem das Stichwort des Glaubens verbindet die Leitthese mit den voranstehenden Abschnitten.
Diese Verbindung gilt auch für die in Kap. 4 anschließenden Ausführungen, die Abraham als Stammvater der Glaubenden, der Beschnittenen wie der Unbeschnittenen, präsentieren. Die rechtfertigungstheologischen Abschnitte sind also nicht auf 1,18–3,31 begrenzt. Dieser Abschnitt ist aber insofern von besonderer Bedeutung, als Paulus hier (wenn auch anders als im Galaterbrief) seine Rechtfertigungstheologie begründet – sowohl im Blick auf die Situation des Menschen unter der Sünde (1,18–3,20) als auch seiner Befreiung aus dieser Situation (3,21–31).
2. Aufbau
1,16f.: Die Leitthese
1,18–32: Die Verlorenheit der Heiden
2,1–16: Der Maßstab von Gottes Gericht ist für alle gleich
2,17–29: Toraübertretung als Aufhebung der Beschneidung
3,1–8: Zwischenbemerkungen
3,9–20: Alle sind »unter der Sünde«
3,21–26: Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Christus
3,27–31: Der eine Gott aller Menschen
3. Auslegung
Inhaltsverzeichnis
- 1,16f.: Die Leitthese
- 1,18–32: Die Verlorenheit der Heiden
- 2,1–16: Der Maßstab von Gottes Gericht ist für alle gleich
- 2,17–29: Toraübertretung als Aufhebung der Beschneidung
- 3,1–8: Zwischenbemerkungen
- 3,9–20: Alle sind »unter der Sünde«
- 3,21–26: Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Christus
- 3,27–31: Der eine Gott aller Menschen
- Rückblick: Der sachliche Grund für das Bild von der »sündigen Menschheit«
1,16f.: Die Leitthese
16 Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, ist es doch Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen. 17 Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: «Der Gerechte aus Glauben wird leben.»
Paulus zitiert hier noch nicht den rechtfertigungstheologischen Grundsatz (Gal 2,16; Röm 3,28), es fehlt der Ausschluss der Rechtfertigung aus »Werken des Gesetzes«. Betont ist dagegen die Rolle des Glaubens.
Ob Rechtfertigung der Sache nach zur Geltung kommt, hängt vom Verständnis der Wendung »Gerechtigkeit Gottes« ab. Im Rahmen der Paulusbriefe werden zwei Deutungen diskutiert: (1) Es geht um die Gerechtigkeit, die im Blick auf Gott selbst auszusagen ist; die Gerechtigkeit, die Gott zukommt, sein heilschaffendes Handeln. Im Vordergrund steht die Heilsmacht, die nach dem Menschen greift (genitivus subjectivus). (2) Es geht um die Gerechtigkeit des Menschen, die von Gott herkommt; die Gerechtigkeit, die von Gott dem Menschen geschaffen wird. Im Vordergrund steht die Heilsgabe, die dem Menschen geschenkt wird (genitivus auctoris).
Beide Verständnismöglichkeiten schließen sich nicht gegenseitig aus. Von der Gerechtigkeit, die Gott zukommt, kann Paulus nicht sprechen, ohne auf ihre Auswirkung zu schauen – die Tatsache, dass Menschen in den Zustand der Gerechtigkeit versetzt werden. Der Akzent kann an verschiedenen Stellen aber unterschiedlich gesetzt sein. In Röm 1,17 geht es vor allem um die von Gott geschaffene Gerechtigkeit des Menschen, da die Gottesgerechtigkeit als Glaubensgerechtigkeit näher bestimmt wird.
Paulus verankert durch die Beschränkung auf die positive Seite der Rechtfertigungstheologie seine Leitthese im Kontext der Brieferöffnung (Stichwort »Glaube« in (1,5.8.12) und benennt mit ihr zugleich die Aussage, die er im Folgenden entfalten will: Gerechtigkeit aus Glauben für Juden und Heiden, die (wie sich zeigen wird) eine Rechtfertigung aus »Gesetzeswerken« ausschließt.
1,18–32: Die Verlorenheit der Heiden
18 Denn es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten, 19 weil das von Gott Erkennbare unter ihnen offenbar ist, denn Gott hat es ihnen geoffenbart. 20 Denn sein unsichtbares [Wesen], sowohl seine ewige Kraft als auch seine Göttlichkeit, wird von Erschaffung der Welt an in dem Gemachten wahrgenommen und geschaut, damit sie ohne Entschuldigung seien; 21 weil sie Gott kannten, ihn aber weder als Gott verherrlichten noch ihm Dank darbrachten, sondern in ihren Überlegungen in Torheit verfielen und ihr unverständiges Herz verfinstert wurde. 22 Indem sie sich für Weise ausgaben, sind sie zu Narren geworden 23 und haben die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes verwandelt in das Gleichnis eines Bildes vom verweslichen Menschen und von Vögeln und von vierfüßigen und kriechenden Tieren. 24 Darum hat Gott sie dahingegeben in den Begierden ihrer Herzen in Unreinheit, ihre Leiber untereinander zu schänden, 25 sie, welche die Wahrheit Gottes in die Lüge verwandelt und dem Geschöpf Verehrung und Dienst dargebracht haben statt dem Schöpfer, der gepriesen ist in Ewigkeit. Amen. 26 Deswegen hat Gott sie dahingegeben in schändliche Leidenschaften. Denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr in den unnatürlichen verwandelt, 27 und ebenso haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen, sind in ihrer Wollust zueinander entbrannt, indem sie Männer mit Männern Schande trieben, und empfingen den gebührenden Lohn ihrer Verirrung an sich selbst. 28 Und wie sie es nicht für gut fanden, Gott in der Erkenntnis festzuhalten, hat Gott sie dahingegeben in einen verworfenen Sinn, zu tun, was sich nicht geziemt: 29 erfüllt mit aller Ungerechtigkeit, Bosheit, Habsucht, Schlechtigkeit, voll von Neid, Mord, Streit, List, Tücke; 30 Ohrenbläser, Verleumder, Gottverhasste, Gewalttäter, Hochmütige, Prahler, Erfinder böser Dinge, den Eltern Ungehorsame, 31 Unverständige, Treulose, ohne natürliche Liebe, Unbarmherzige. 32 Obwohl sie Gottes Rechtsforderung erkennen, dass, die solches tun, des Todes würdig sind, üben sie es nicht allein aus, sondern haben auch Wohlgefallen an denen, die es tun.
V.18 Erneut ist die Rede von einem Offenbartwerden (wieder ἀποκαλύπτεται), doch ist es nun der Zorn Gottes, der vom Himmel her gegen alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen offenbart wird. Man wird trotz der Präsensform Röm 1,18 am besten von der apokalyptischen Vorstellung her deuten: Paulus bezieht sich auf die in der jüdischen Tradition vertraute Vorstellung des endzeitlichen Gerichts Gottes über die Heiden.
VV.19–23 Dies bestätigt sich, wenn in der Folge von der Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen gesprochen wird. Paulus geht davon aus, dass jeder Mensch Gott in der Schöpfung begegnet, diese Begegnung aber unter den Heiden nicht zum Ziel führt: Trotz der Erkenntnis kommt es nicht zur Anerkennung Gottes; die Heiden sagen Gott nicht als Gott Lob und Dank (V.21). Statt dem wahren Gott haben sich die Heiden Bildern von Menschen und Tieren zugewendet (VV.22f.25), Paulus bezieht sich hier also auf die heidnische Religiosität, von der aus für ihn kein Weg zum Schöpfer führt.
Zur Frage einer »natürlichen Theologie« in Röm 1,19f.
Röm 1,19f. spielt eine nicht unwesentliche Rolle bei der Diskussion um die Möglichkeit einer natürlichen Theologie, der Erkenntnis Gottes aus der Schöpfung. Betrachtet man die Verse innerhalb des Kontextes, in den Paulus sie gestellt hat, sind sie kein unmittelbarer Zeuge für eine natürliche Theologie. In diesem Rahmen kommt nicht in Frage, dass die in der Schöpfung gegebene Erkennbarkeit Gottes zu Gott führt. Oder anders: Paulus geht nicht von der theoretischen Möglichkeit menschlicher Gotteserkenntnis aus, um aus dem faktischen Misslingen dieser Möglichkeit die Unentschuldbarkeit des Menschen zu folgern. Sein Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass der Mensch durch die Gnade Gottes gerettet worden ist. Deshalb legt er die Verlorenheit aller in ihrer Verfallenheit an die Sünde dar; und in diesem Zusammenhang spricht er von der Unentschuldbarkeit der Heiden in ihrer Verfehlung Gottes und den daraus sich ergebenden moralischen Verirrungen. Eine Reflexion auf die Möglichkeit natürlicher Theologie ist hier nicht enthalten.
VV.24–27 Im Folgenden geht Paulus auf die Konsequenzen aus der Verfehlung des wahren Gottes ein, die zunächst unbestimmt als Auslieferung an die Unreinheit beschrieben werden (V.24), ehe die Konkretion folgt: Paulus hat homosexuelle Praktiken im Blick als Strafe, die Gott für den Götzendienst verfügt habe (VV.26f).
Verurteilung der Homosexualität in Röm 1,26f.?
Zu einer angemessenen Interpretation von Röm 1,26f. ist eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen.
(1) Den Begriff »Homosexualität« gab es in der Antike nicht. Man verstand Sexualität nicht als einen eigenen Bereich personaler Identität. Sexualität war in antiken Gesellschaften eingebunden in gegebene Herrschaftsbeziehungen. Die Beurteilung sexueller Akte hing auch vom sozialen Status der Partner ab.
(2) Der Einbindung in sozial vorgegebene Rollen entspricht auch die »asymmetrische« Sicht der Sexualität: Man unterschied zwischen der aktiven, dominanten Rolle und der passiven, untergeordneten. Orientiert war diese Unterscheidung am Konzept der Penetration: Mit »Männlichkeit« verbindet sich die aktive Rolle; »Weiblichkeit« bedeutet Passivität und Unterwerfung. Der aktive, penetrierende Partner musste in der sozialen Rangordnung über dem passiven Partner stehen.
(3) In atl-jüdischer Tradition spielt die Frage von sozialer Über- und Unterordnung keine Rolle. Dennoch dürfte das Modell der Penetration auch hier entscheidend sein (»… nicht mit einem Mann wie mit einer Frau liegen«: Lev 18,22; 20,13). Damit würde die in der Schöpfung grundgelegte Unterscheidung zwischen Mann und Frau negiert werden.
(4) Auch in Röm 1,26f. geht es demnach um die Vertauschung von Rollen, die in der Schöpfung gründen: Frauen verlassen die ihnen zugewiesene passive Rolle, Männer die aktive. Nicht Homo- und Heterosexualität stehen im Vordergrund, sondern der Unterschied der Geschlechter, wie er im damaligen Wertesystem wahrgenommen wurde.
Aus der Betrachtung ergibt sich: (a) Es wird nicht Homosexualität als solche verurteilt. Dazu fehlt die Voraussetzung: die Sicht von Sexualität als eines eigenen Bereichs individueller Identität. Es werden bestimmte sexuelle Praktiken abgelehnt. (b) Die Kritik an homosexuellen Praktiken in antiken und biblischen Texten basiert auf einem Denken von Über- und Unterordnung, das wir nicht mehr zugrunde legen für die Beziehung der Geschlechter. Lässt sich aber jene Kritik ohne das Wertsystem übernehmen, auf dem sie fußt?
VV.28–32 Die Auswirkung der Tatsache, dass die Heiden Gott verfehlen, kommt hier noch umfassender zu Wort. Hier wird ein düsteres Bild menschlicher Bosheit gezeichnet, durchaus in der Tradition jüdischer Kritik am Heidentum, allerdings noch verschärft um den Aspekt der Unentschuldbarkeit.
2,1–16: Der Maßstab von Gottes Gericht ist für alle gleich
1 Deshalb bist du nicht zu entschuldigen, o Mensch, jeder, der da richtet; denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst; denn du, der du richtest, tust dasselbe. 2 Wir wissen aber, dass das Gericht Gottes der Wahrheit entsprechend über die ergeht, die solches tun. 3 Denkst du aber dies, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und dasselbe verübst, dass du dem Gericht Gottes entfliehen wirst? 4 Oder verachtest du den Reichtum seiner Gütigkeit und Geduld und Langmut und weißt nicht, dass die Güte Gottes dich zur Buße leitet? 5 Nach deiner Störrigkeit und deinem unbußfertigen Herzen aber häufst du dir selbst Zorn auf für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, 6 der einem jeden vergelten wird nach seinen Werken: 7 denen, die mit Ausdauer in gutem Werk Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit suchen, ewiges Leben; 8 denen jedoch, die von Selbstsucht [bestimmt] und der Wahrheit ungehorsam sind, der Ungerechtigkeit aber gehorsam, Zorn und Grimm. 9 Drangsal und Angst über die Seele jedes Menschen, der das Böse vollbringt, sowohl des Juden zuerst als auch des Griechen; 10 Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden jedem, der das Gute wirkt, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen. 11 Denn es ist kein Ansehen der Person bei Gott.
12 Denn so viele ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verlorengehen; und so viele unter Gesetz gesündigt haben, werden durch Gesetz gerichtet werden 13 – es sind nämlich nicht die Hörer des Gesetzes gerecht vor Gott, sondern die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden. 14 Denn wenn Völker, die kein Gesetz haben, von Natur dem Gesetz entsprechend handeln, so sind diese, die kein Gesetz haben, sich selbst ein Gesetz. 15 Sie beweisen, dass das Werk des Gesetzes in ihren Herzen geschrieben ist, indem ihr Gewissen mit Zeugnis gibt und ihre Gedanken sich untereinander anklagen oder auch entschuldigen – 16 an dem Tag, da Gott das Verborgene der Menschen richtet nach meinem Evangelium durch Jesus Christus.
VV.1–11 War zuletzt die Rede von denen, die dem verwerflichen Handeln der Heiden zustimmen (1,32), kommt nun plötzlich der Kritiker jener Verhaltensweisen in den Blick. Zwar wird an dieser Stelle noch nicht ausdrücklich gesagt, dass dieser Kritiker als Jude gedacht ist. Trotzdem dürfte von der ganzen Gedankenführung des Abschnitts her gesehen dies schon hier der Fall sein, und nicht erst in 2,17, wo explizit von einem Juden die Rede ist. Es geht jedenfalls in 2,1–11 und 2,17–24 jeweils um den Kritiker, der genau das tut, was er beim andern verurteilt.
Der Einsatz mit »deshalb« ist wohl am besten als vorweggenommene Begründung verstehen. Paulus formuliert schon auf den eigentlichen Gedanken hin, der die Unentschuldbarkeit des Kritikers des Heiden im Tun eben jenes angeprangerten Handelns erblickt.
Im ersten Abschnitt von Röm 2 (VV.1–11) stellt Paulus den für alle Menschen gleichen Maßstab von Gottes Gericht heraus: Jeder wird gemäß seinen Taten gerichtet, sei er Jude oder Heide. Dass es auch für Juden kein Sonderrecht gebe, wird in 2,9f. deutlich ausgesprochen, steht aber, wenn die obige Bestimmung des Adressaten dieses Kapitels zutrifft, schon hinter 2,1–3: Dem Juden, der den Heiden richtet, geht es im Gericht Gottes nicht anders als dem Heiden, denn er vollbringt dasselbe wie der Heide.
VV.12–16 Der Grundsatz vom Gericht, das jeden Menschen gemäß seinen Taten trifft, wird nun noch etwas näher entfaltet. Dabei ist die Gleichstellung von Juden und Heiden wiederum an die Adresse des Juden gerichtet. Der Unterschied zwischen Heiden und Juden bleibt zwar – aber dieser Unterschied ist ohne Bedeutung für das Bestehen oder Nichtbestehen im Gericht Gottes. Paulus schreibt auffälligerweise der Tora nur die Funktion zu, den Juden zu richten, nicht aber zu retten (V.12, ohne positive Entsprechung). Paulus denkt und formuliert von seiner Rechtfertigungstheologie her (s.a. die negative Aussage in 3,20).
Dass Heiden »von Natur aus« (φύσει) die Gesetzesforderung erfüllen, überrascht nach den Aussagen in 1,18–32. Von Heidenchristen kann Paulus hier nicht sprechen, denn: Der Gedankengang richtet sich auf die Situation des Menschen außerhalb der Christus-Offenbarung; dass die das Gesetz erfüllenden Heiden »sich selber Gesetz« seien (V.14), trifft für Heidenchristen nicht zu (s. 1Kor 9,21; Gal 6,2: Bezug auf »Gesetz Christi«). Hier zeigt sich eine Inkonsequenz, die auf die Künstlichkeit der paulinischen »Analyse« des Menschen weist. Dennoch hat der Bezug auf heidnische Gesetzeserfüllung traditionsgeschichtliche Vorgaben: Philo von Alexandrien greift den Gedanken der Stoa vom ungeschriebenen Gesetz in der vom Logos bestimmten Natur auf und wendet ihn auf die Übereinstimmung mit der Mose-Tora an. Abraham habe diese bereits eingehalten, ehe sie erlassen war (De Abr 275f.).
Mit dem »Gewissen« bringt Paulus die anthropologische Instanz ein, die das Genügen oder Ungenügen angesichts der ungeschriebenen Forderung des Gesetzes erfahren lässt. Der Bezug auf den Gerichtstag (V.16) scheint unvermittelt einen endzeitlichen Aspekt einzubringen, könnte aber vor allem den Gedanken abwehren wollen, Heiden könnten ohne Christus gerechtfertigt werden (s. Ergänzung: »… gemäß meinem Evangelium durch Christus Jesus«).
2,17–29: Toraübertretung als Aufhebung der Beschneidung
17 Wenn du dich aber einen Juden nennst und dich auf das Gesetz stützt und dich Gottes rühmst 18 und den Willen kennst und prüfst, worauf es ankommt, weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist, 19 und getraust dich, ein Leiter der Blinden zu sein, ein Licht derer [, die] in Finsternis [sind], 20 ein Erzieher der Törichten, ein Lehrer der Unmündigen, der die Verkörperung der Erkenntnis und der Wahrheit im Gesetz hat: – 21 der du nun einen anderen lehrst, du lehrst dich selbst nicht? Der du predigst, man solle nicht stehlen, du stiehlst? 22 Der du sagst, man solle nicht ehebrechen, du begehst Ehebruch? Der du die Götzenbilder für Gräuel hältst, du begehst Tempelraub? 23 Der du dich des Gesetzes rühmst, du verunehrst Gott durch die Übertretung des Gesetzes? 24 Denn der Name Gottes wird euretwegen unter den Völkern gelästert, wie geschrieben steht.
25 Denn Beschneidung ist wohl nütze, wenn du das Gesetz befolgst; wenn du aber ein Gesetzesübertreter bist, so ist deine Beschneidung Unbeschnittenheit geworden. 26 Wenn nun der Unbeschnittene die Rechte des Gesetzes befolgt, wird nicht sein Unbeschnittensein für Beschneidung gerechnet werden 27 und das Unbeschnittensein von Natur, das das Gesetz erfüllt, dich richten, der du mit Buchstaben und Beschneidung ein Gesetzesübertreter bist? 28 Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch ist die äußerliche [Beschneidung] im Fleisch Beschneidung; 29 sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung [ist die] des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben. Sein Lob kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.
VV.17–24 Dass Juden die Tora tun, ist bislang nicht ausdrücklich bestritten worden, sondern nur in der Kritik am »richtenden Menschen« angeklungen. Nun wird, ähnlich wie der Mensch in 2,1, der Jude direkt angesprochen. Die Einseitigkeit des gemalten Bildes fällt auf: Zwar wird jüdisches Selbstverständnis, sofern es sich der Erwählung durch Gott verdankt, noch unpolemisch skizziert (2,17–20); dann aber wird nur noch vom Scheitern an der Tora-Forderung gesprochen.
Syntaktisches Problem von 2,17–23
Die Stärke der Polemik hängt von der syntaktischen Interpretation des Satzgefüges in VV.17–24 ab. Der anfängliche Konditionalsatz bleibt in der Luft hängen. Versteht man V.23 als Hauptsatz zum Konditionalsatz, der in V.17 beginnt, wäre das negative Bild des Juden unter eine Bedingung gestellt: »Wenn du Jude bist und dich Gottes rühmst, aber nicht tust, was du als Kenner des Gesetzes lehrst, dann entehrst du Gott durch die Übertretung. « Versteht man dagegen den Konditionalsatz als abgebrochen (so auch die obige Übersetzung), wäre durch die Frage in 2,21f. nahegelegt, dass der Lehrer des Gesetzes sich gewöhnlich durch die beklagte Inkonsequenz auszeichnet. Diese zweite Deutung verdient angesichts des Kontextes den Vorzug (s. V.24; 3,9; 2,25–29).
VV.25–29 In VV.25–29 kommt die mangelnde Konsequenz der Tora-Erfüllung unter dem Stichwort »Beschneidung« zur Sprache. Judesein entscheidet sich nicht an dem sichtbaren Zeichen der Beschneidung. Der Jude, der das Gesetz übertritt, hebt das Zeichen der Zugehörigkeit zum Gottesvolk auf.
3,1–8: Zwischenbemerkungen
1 Was ist nun der Vorzug des Juden oder was der Nutzen der Beschneidung? 2 Viel in jeder Hinsicht. Denn zuerst sind ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut worden. 3 Was denn? Wenn einige untreu waren, wird etwa ihre Untreue die Treue Gottes aufheben? 4 Das sei ferne! Vielmehr sei es so: Gott [ist] wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner, wie geschrieben steht: Damit du gerechtfertigt werdest in deinen Worten und den Sieg davonträgst, wenn man mit dir rechtet. 5 Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was wollen wir sagen? Ist Gott etwa ungerecht, wenn er Zorn auferlegt? – Ich rede nach Menschenweise. – 6 Das sei ferne! Wie könnte sonst Gott die Welt richten? 7 Wenn aber die Wahrheit Gottes durch meine Lüge überströmender geworden ist zu seiner Herrlichkeit, warum werde ich auch noch als Sünder gerichtet? 8 Und [sollen wir es] etwa [so machen], wie wir verlästert werden und wie einige sagen, dass wir sprechen: Lasst uns das Böse tun, damit das Gute komme? Deren Gericht ist gerecht.
VV.1–4 Die Aussagen, die Paulus in 2,25–29 erreicht hat (»Judesein im Verborgenen«, »Beschneidung des Herzens«), legen das Urteil nahe, der Unterschied zwischen Juden und Heiden hätte überhaupt keine Bedeutung mehr, die besondere Geschichte Gottes mit Israel wäre nun hinfällig und irrelevant. Paulus beeilt sich darum in VV.1f., den Vorzug der Juden wieder herauszuheben: Er ist groß in jeder Hinsicht. Außerdem ist im weiteren Rahmen des Briefes auch an die Kapp. 9–11 zu denken, wo das Thema »Israel« in größerem Zusammenhang aufgegriffen wird und die heidenchristliche Kirche gewarnt wird vor einer Geringschätzung und Überhebung über Israel. Israels Fehlverhalten hebt sein besonderes Gottesverhältnis nicht auf, denn Gott bleibt treu (VV.3f.).
VV.5–8 Daraus ergibt sich aber eine Frage: Wenn Israels Untreue sogar gerade Gottes Gerechtigkeit erweist – wie kann Gottes Zorn dann gerecht sein? (V.5) Paulus wendet sich gegen eine solche Frage letztlich mit der Glaubensüberzeugung: Gott ist Weltenrichter, dies kann ihm nicht bestritten werden. Also ist die Folgerung absurd, dass Gott sein Richteramt gegenüber dem sündigen Menschen nicht ausüben könne, weil die Sünde Gottes Gnade in Kraft setze. Paulus weist denkbare Konsequenzen aus seiner Theologie zurück. Dass sie denkbar waren, zeigt das Zitat, das Paulus in V.8 anführt. Von anderen werde er verlästert, mit seiner Verkündigung letztlich zum Tun des Bösen aufzurufen. Wie die Notizen zur Sonderstellung Israels (3,1f.) in Röm 9–11 aufgenommen werden, so verfolgt Paulus die sich hier ergebenden Fragen später ebenfalls noch einmal ausführlich (s. Röm 6,1; dazu hier).
3,9–20: Alle sind »unter der Sünde«
9 Was nun? Haben wir einen Vorzug? Durchaus nicht! Denn wir haben sowohl Juden als Griechen zuvor beschuldigt, dass sie alle unter der Sünde seien, 10 wie geschrieben steht: Da ist kein Gerechter, auch nicht einer; 11 da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht. 12 Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer. 13 Ihr Schlund ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen handelten sie trügerisch. Otterngift ist unter ihren Lippen. 14 Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit. 15 Ihre Füße sind schnell, Blut zu vergießen; 16 Verwüstung und Elend ist auf ihren Wegen, 17 und den Weg des Friedens haben sie nicht erkannt. 18 Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen. 19 Wir wissen aber, dass alles, was das Gesetz sagt, es denen sagt, die unter dem Gesetz sind, damit jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei. 20 Darum: aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durch Gesetz [kommt] Erkenntnis der Sünde.
V.9 Diese Aussage kann als Schlüssel des ganzen Gedankengangs angesehen werden. Paulus fasst zusammen, was er dargelegt hat. Er kehrt zurück zum Thema nach seinen exkursartigen Ausführungen in VV.1–8. Dass Israel den Heiden etwas voraushat, wird zwar nicht rundweg abgewiesen, ist aber nicht entscheidend für das Gottesverhältnis: Dieses ist für beide Größen bestimmt durch das Sein unter der Macht der Sünde.
VV.10–18 Die Schlüsselfunktion von V.9 erweist sich auch dadurch, dass nun ein Schriftbeweis für die These von der allgemeinen Sündhaftigkeit unternommen wird. Nicht nur Paulus behauptet dies, es steht auch geschrieben (καθὼς γέγραπται). Ein solcher Schriftbeweis gelingt nur durch entsprechende Auswahl, ein Beweis im eigentlichen Sinn liegt nicht vor. Paulus will aber offensichtlich seine These von V.9 vor allem im Blick auf die behauptete Sündhaftigkeit der Juden absichern und beruft sich deshalb auf die Autorität der Schrift.
VV.19f. Erneut wird die umfassend gegebene Schuld benannt (ὑπόδικος γένηται πᾶς ὁ κόσμος), nun aber aus spezifisch jüdischer Perspektive, insofern das Gesetz und die von ihm Betroffenen (τοῖς ἐν τῷ νόμῳ) in den Blick genommen sind. Auch speziell in diesem Rahmen ist also das allgemeine Verdikt gültig. Damit ist der Endpunkt des Argumentationsganges erreicht, es folgt allein eine Bemerkung über die Rolle des Gesetzes. Es vermittelt nicht Rechtfertigung, sondern Erkenntnis der Sünde. Dies wird hier nicht weiter erläutert (s. dazu Röm 7,7–25). Nach den bisherigen Ausführungen kann Paulus nur meinen, dass eine Rechtfertigung aus dem Gesetz deshalb unmöglich ist, weil es nicht befolgt wird.
3,21–26: Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Christus
21 Jetzt aber ist ohne Gesetz Gottes Gerechtigkeit geoffenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten: 22 Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesus Christus für alle, die glauben. Denn es ist kein Unterschied, 23 denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes 24 und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist. 25 Ihn hat Gott dargestellt zu einem Sühneort durch den Glauben in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit wegen des Erlasses der vorher geschehenen Sünden 26 unter der Nachsicht Gottes; zum Erweis seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, dass er gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesus ist.
V.21 An dieser Stelle sind wir bei der Wende angekommen, die Paulus durch die Zeitangabe νυνὶ δέ markiert. Außerdem wird der Neueinsatz deutlich durch die zwei anschließenden Wendungen. Zum einen tritt die Bestimmung χωρὶς νόμου (»ohne Gesetz«) in Gegensatz zur bisherigen Schilderung, die auf die Situation unter dem Gesetz ausgerichtet war; zum andern erscheint mit der »Gerechtigkeit Gottes« der Gegenbegriff zum »Zorn Gottes«, in 1,18 der Ausgangspunkt der Präsentation universaler menschlicher Schuldverstrickung. Jetzt wird deutlich: Die Rede vom Gerichtszorn war nur vorläufig, sie läuft nicht auf das richtende, sondern das rettende Handeln Gottes zu. Wenn dieses als Offenbarung der δικαιοσύνη θεοῦ erscheint, wird eine Brücke geschlagen zu 1,16f., wo es hieß, im Evangelium sei Gottes Gerechtigkeit offenbart. Diese Verbindung wird nicht dadurch unterbrochen, dass in 1,17 ein anderes Verb und eine andere Zeit für »offenbaren« verwendet wird (ἀποκαλύπτεται – πεφανέρωται). Auch das in 3,22 erscheinende Stichwort der πίστις (Glaube) verbindet unseren Abschnitt mit der »Überschrift« in 1,16f. Jetzt erst wird nach langem Anlauf und dem abrupten Wechsel von der Gerechtigkeit zum Zorn Gottes in 1,17.18 der kennzeichnende Inhalt des Evangeliums aufgenommen.
Warum dieser lange Anlauf? In 1,16 hatte Paulus vom Evangelium gesagt, es sei Kraft Gottes zur Rettung jedem Glaubenden, dem Juden zuerst und dem Griechen. Diese Gleichbehandlung von Juden und Heiden, die durch das »zuerst« nicht aufgehoben wird, ist alles andere als selbstverständlich. Paulus kann sich nicht einfach mit der Behauptung begnügen, sondern muss sie näher ausführen. Diesem Ziel dient die ganze Passage 1,18–3,20, an deren Ende Juden und Heiden in derselben Beziehung zu Gott erscheinen: Trotz Israels Vorzug bietet das Gesetz keinen Ausweg aus der Situation unter der Macht der Sünde. So eröffnet sich die Gerechtigkeit Gottes allen gleich. Dass diese Deutung nicht am Text vorbeigeht, zeigen die Akzente in VV.22f.
VV.22f. Die Gerechtigkeit Gottes wird zunächst an den Glauben gebunden: Sie ist wirksam durch Glauben an Jesus Christus (διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ), und zwar im Blick auf alle Glaubenden (εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας). Nicht zufällig ist von allen Glaubenden die Rede, wie aus dem nachfolgenden Begründungssatz hervorgeht. Es soll wirklich die Totalität betont werden – im Horizont der Unterscheidung zwischen Juden und Heiden. Paulus negiert nämlich diesen Unterschied ausdrücklich. Hier kann nur die Differenzierung zwischen Juden und Heiden im Blick sein. Und damit auch niemand die Pointe verpasst, heißt es in 3,23: alle haben gesündigt. Wenn also eine Form von πᾶς mit den Glaubenden (πιστεύων, πιστεύοντες) verbunden ist (1,16; 3,22), soll die Rettung exklusiv an den Glauben gebunden werden. Neben ihm kann es keine weitere Bedingung des Heils geben. Um dieses Aussagezieles willen ist Paulus daran gelegen, Juden und Heiden in der Auflehnung gegen Gott als identisch darzustellen.
VV.24–26 Nun geht es wesentlich um den christologischen Aspekt der Rechtfertigung. Die Erlösung ist »in Christus Jesus« geschehen, und dies gnadenhalber, wie in Übereinstimmung mit den Ausführungen in 1,18–3,20 ausdrücklich festgehalten wird: Die Glaubenden sind δωρεάν gerechtfertigt, also »geschenkweise, unverdientermaßen«, durch seine (Gottes) Gnade (τῇ αὐτοῦ χάριτι).
Näheres zur Erlösung in Jesus Christus wird in den VV.25f. ausgeführt, ein nicht ganz einfach zu durchschauendes Satzgebilde. Halten wir zunächst die Grundaussage fest: Die zuletzt erwähnte »Erlösung in Christus Jesus« (V.24) wird erläutert als im Sühnetod Jesu geschehen. In ihm hat Gott seinen Heilswillen, seine Gerechtigkeit erwiesen, die sich äußert als das Nichtanrechnen oder Vergeben von Sünden und als rechtfertigendes Handeln an denen, die glauben.
Im Detail ist die Passage stark umstritten. Dies betrifft das Verständnis einzelner Lexeme, die syntaktische Struktur sowie die Frage, ob ein rekonstruierbares Traditionsstück verarbeitet ist. Das zuletzt genannte Problem wird provoziert durch den etwas überladenen Satz, was auf Überarbeitung einer Vorlage deuten könnte; außerdem durch für Paulus teilweise ungewöhnliche Wortwahl. Wir gehen dieser Frage hier nicht nach. Wenn Paulus ein Traditionsstück aufgegriffen und verarbeitet hat, dürften Bearbeitungsspuren am ehesten in den Elementen zu suchen sein, die den Text mit dem Kontext verbinden. Dies sind die Stichworte des Glaubens und der Gerechtigkeit.
Am ausgeprägtesten ist die Diskussion um das Verständnis des Begriffes, der in der obigen Übersetzung mit »Sühneort« wiedergegeben ist: ἱλαστήριον. Es werden verschiedene Deutungen vorgeschlagen:
(1) Die LXX übersetzt mit diesem Wort das hebräische kapporet, das die Deckplatte auf der Bundeslade bezeichnet. Sie wird im großen Sühneritus an Jom Kippur mit dem Blut eines Ziegenbocks besprengt (Lev 16,15–17). Legt man dies der Auslegung zugrunde, wäre Röm 3,25 kulttypologisch zu deuten: Jesus tritt durch seinen Tod an die Stelle der in jährlichem Rhythmus kultisch vermittelten Versöhnung zwischen Gott und Mensch.
(2) In einer nichtkanonischen frühjüdischen Schrift, dem 4. Makkabäerbuch, bezeichnet ἱλαστήριον die Wirkung des Todes der Märtyrer, die für die Tora ihr Leben lassen: Israel wird gerettet durch den als Sühne (ἱλαστήριον) für Israels Sünden gerechneten Tod der Märtyrer (4Makk 17,21f.). Nur hier wird, abgesehen von Röm 3,25, in der erhaltenen Literatur ἱλαστήριον mit dem Tod von Menschen verbunden. Zieht man diesen Hintergrund heran, läge der Ton auf dem Tod Jesu als Märtyrertod.
(3) ἱλαστήριον kann auch Weihegeschenk bedeuten, ein Gegenstand oder eine Inschrift. Dessen Funktion ist, die Gottheit gnädig zu stimmen. Der übliche Vorgang wäre freilich in Röm 3,25 umgekehrt: Nicht Menschen stellen ein Weihegeschenk auf, sondern Gott – mit dem Ziel der Versöhnung mit den Menschen (»Gott hat ihn hingestellt als ἱλαστήριον…«).
(4) Mit ἱλαστήριον können, ohne Rückgriff auf einen spezifischen Hintergrund, allgemeine Entsündigungsvorstellungen verbunden sein. Entscheidend ist diese Wirkung: dass der Tod von Sünde befreit. Auch bei solchem Verständnis legt sich freilich nahe, dass Lev 16 im Hintergrund des Textes anzunehmen ist und auf Lev 16,15–17 angespielt wird, da so der ausdrückliche Bezug auf das Blut erklärt werden kann, der sich nicht aus den Gegebenheiten einer Kreuzigung ergibt (auch wenn »Blut« metonymisch für einen gewaltsamen Tod stehen kann).
Eine eindeutige Lösung ist nicht möglich. Die Auslegung von 4Makk 17,21f. zu deuten dürfte wegen der Vereinzelung des Belegs wie auch aus literarhistorischen Gründen (4Makk um 100 n. Chr.) schwierig sein. Der Bezug auf das Weihegeschenk kann die Formulierung vom »öffentlich Hinstellen« (προέθετο) erklären und sich gut auf den kulturellen Hintergrund der Adressaten des Römerbriefs beziehen, muss aber in Kauf nehmen, dass eine sehr weitreichende Umdeutung des Bildspenders angenommen werden muss: Urheber und Empfänger eines Weihegeschenks müssen ins Gegenteil verkehrt werden. Ist es wahrscheinlich, dass die Adressaten an ein Weihegeschenk denken, wenn sie hören, dass Gott das ἱλαστήριον aufgestellt hat? Auch fragt sich, wie sich die Funktion des Weihegeschenks (versöhnlich stimmen, beschwichtigen) in der Gott-Mensch-Beziehung umdrehen lässt, zumal wenn der Kontext auf die Vergebung von Sünden verweist. So scheint die Beziehung auf den kultischen Hintergrund im Ganzen die wenigsten Schwierigkeiten zu bereiten, auch wenn in diesem Rahmen unterschiedliche Deutungen vorgeschlagen werden. Am meisten dürfte die Deutung für sich haben, die eine »funktionale Analogie zum Blutritus« am Versöhnungstag erkennt: »Das Tertium comparationis ist die jeweilige Wirkung: die Entfernung der Sünden« (M. Wolter).
Weitere semantische und syntaktische Probleme von Röm 3,25f.
Unterschiedlich wird die Bedeutung des Lexems πάρεσις aufgefasst: »Durchgehenlassen, Nichtahndung« oder »Vergebung, Erlass«? Die Wendung ἐν τῇ ἀνοχῇ τοῦ θεοῦ (»in der Geduld Gottes«) in V.26a wird der πάρεσις zugeordnet oder den »zuvor geschehenen Sünden« (τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων).
Versteht man πάρεσις als »Durchgehenlassen«, wäre der Text so zu verstehen: Vor dem Erweis seiner Gerechtigkeit im Tod Christi hat Gott die Sünden nicht geahndet, sondern hingenommen (wie ja zuvor in Röm 1,18–3,20 eine Situation universaler Sünde beschrieben wurde, verbunden mit dem Zorn Gottes, der offenbart, aber nicht ausgegossen wird). Diese Zeit der Geduld, die über die Sünde hinwegsieht, ist nun vorbei. Die Gegenwart ist bestimmt durch die Offenbarung von Gottes Gerechtigkeit, seiner rettenden Zuwendung in Christus. Nun kommt es darauf an, diese Zuwendung im Glauben wirksam werden zu lassen. Eine neue Situation der Entscheidung ist entstanden, in der die Glaubenden vor dem kommenden Zorn Gottes im Gericht bewahrt werden (s. 1Thess 1,10).
Geht es dagegen um die Vergebung der zuvor geschehenen Sünden würde der Erweis der Gerechtigkeit Gottes einmal als Sündenvergebung (V.25), zum andern als Rechtfertigung der Glaubenden (V.26) profiliert werden. Es würden nicht, wie im zuvor besprochenen Fall, zwei verschiedene Zeiten einander gegenübergestellt, von der die erste nun der Vergangenheit angehörte. Der Akzent läge vielmehr darauf, dass durch den Erweis der Gerechtigkeit Gottes in Christi Tod die in der Vergangenheit begangenen Sünden vergeben sind.
Eine Entscheidung ist schwierig, beide Verständnisweisen sind möglich. Vielleicht kann das erste Modell besser erklären, warum die zeitliche Struktur durch zwei Bestimmungen, die sich auf Vergangenheit (»zuvor geschehene Sünden«) und Gegenwart (»in der jetzigen Zeit«) beziehen, besonders betont ist.
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Zur syntaktischen Zuordnung von »in der Geduld Gottes«: Bezieht man die Wendung auf die »zuvor geschehenen Sünden« (»die in der Geduld Gottes zuvor geschehenen Sünden«), würde dies am besten zu der ersten Deutung der πάρεσις passen: die derart qualifizierten Sünden hat Gott durchgehen lassen, nicht geahndet. Wenn die Sünden mit der Geduld verbunden werden, liegt die Nichtahndung näher als die Vergebung. Insofern empfiehlt sich in diesem zweiten Fall, die Wendung »in seiner Geduld« direkt auf die πάρεσις im Sinne der Vergebung zu beziehen und deren Motiv angegeben zu sehen: In seiner Geduld hat Gott die begangenen Sünden vergeben. Auch hier gilt: Beide Vorschläge sind möglich.
3,27–31: Der eine Gott aller Menschen
27 Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist ausgeschlossen. Durch was für ein Gesetz? Der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. 28 Denn wir urteilen, dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke. 29 Oder ist [Gott] der Gott der Juden allein? Nicht auch der Völker? Ja, auch der Völker. 30 Denn Gott ist einer. Er wird die Beschneidung aus Glauben und das Unbeschnittensein durch den Glauben rechtfertigen. 31 Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir bestätigen das Gesetz.
In 3,27–31 wird Rechtfertigung wieder im Horizont der hinfälligen Juden-Heiden-Differenzierung besprochen. Paulus kehrt nun, nach dem eher proklamatorischen Stil der Verse 21–26 zurück zum lebendigen Wechsel von Frage und Antwort.
V.27 Der Bezug auf das Rühmen (V.27) verweist im Kontext auf das Rühmen des Juden in 2,17.23. Es gibt kein Rühmen, das in einer Unterscheidung zwischen Juden und Heiden im Blick auf die Rechtfertigung gründet. Genau dies hat Paulus zuvor gezeigt (s. v.a. 3,9.19f.22f.), und genau diese Frage des Verhältnisses von Juden und Heiden spielt auch im Fortgang des Abschnitts die entscheidende Rolle (VV.29f.).
Ausgeschlossen wurde solches Rühmen durch »das Gesetz des Glaubens«. Die Frage, »durch welches Gesetz« das Rühmen ausgeschlossen wurde, deutet auf eine Vielzahl von Gesetzen. Es ist hier demnach nicht an die Mose-Tora gedacht, näher liegt die allgemeinere Bedeutung von νόμος im Sinn von »Norm, Maßstab« (s. dazu auch Röm 7,21.23.25). Demnach schließt das Prinzip des Glaubens das Rühmen aus – jener »Maßstab«, an den Gott die Gabe seiner Gerechtigkeit gebunden hat, ohne zu unterscheiden zwischen Juden und Heiden (3,22f.).
V.28 Paulus begründet die Aussage vom Ausschluss des Rühmens aufgrund des Prinzips des Glaubens in V.28 mit dem rechtfertigungstheologischen Grundsatz. Dies bedeutet: Weil Rechtfertigung durch Glauben geschieht (ohne Gesetzeswerke), ist das Rühmen ausgeschlossen aufgrund des Glaubensprinzips. Wer so argumentiert, für den ist der Glaube per se für alle offen (wieder: sofern man akzeptiert, dass das Rühmen sich auf die Sonderstellung Israels bezieht).
VV29f. Entsprechend stellt Paulus eine (rhetorische) Frage, die genau auf die Universalität zielt: »Oder ist Gott ein Gott der Juden allein und nicht auch der Heiden? Ja, auch der Heiden.« In dem »oder« deutet sich an, dass die vorherige Aussage den Gegensatz zu dieser Frage ausgedrückt hat: Die Rechtfertigung aus Glauben impliziert, dass Gott nicht nur Gott der Juden ist. Paulus beruft sich für diese universale Sicht Gottes aber auch auf das Bekenntnis Israels zur Einzigkeit Gottes: »… wenn doch Gott einer ist.« Gewöhnlich wird hier eine Anspielung auf Dtn 6,4 erkannt, das Grundbekenntnis Israels, in dem allerdings von JHWH als »unserem Gott« die Rede ist. Paulus verbindet mit der Einzigkeit Gottes die Gleichheit der Rechtfertigung von Juden und Heiden: »… wenn doch Gott einer ist, der die Beschneidung aus Glauben und die Vorhaut durch Glauben rechtfertigt.« So bestätigt das Bekenntnis, dass Gott einer ist, den Weg der Rechtfertigung über den Glauben – für alle.
V.31 Dass mit einer solchen Sicht das Gesetz nicht außer Kraft gesetzt wird, hält Paulus abschließend fest, bietet dafür aber keine Begründung. Entweder hat er die folgenden Ausführungen über Abraham als Entfaltung verstanden oder, wahrscheinlicher, er denkt an die Erfüllung des Gesetzes, die gerade den Glaubenden durch den Geist möglich ist (8,3f.; 13,8–10).
Rückblick: Der sachliche Grund für das Bild von der »sündigen Menschheit«
Warum malt Paulus ein so düsteres Bild vom Menschen: absolut in der Sünde gefangen und böse, unter Gottes Zorn? Die Antwort (hier versucht im Anschluss an E.P. Sanders) ist weder im tatsächlichen Verhalten der Zeitgenossen des Paulus zu suchen noch in einer grundsätzlichen Analyse menschlicher Existenz vor Gott, denn:
- In Röm 2,14f.26f. setzt Paulus voraus, dass auch Heiden das im Gesetz Geforderte tun können, also kann sein Bild der sündhaften Heiden nicht an einer rein negativen Wirklichkeit abgelesen sein.
- Über sein eigenes Leben als frommer Pharisäer urteilt Paulus in Phil 3,6: »untadelig geworden in der Gerechtigkeit nach dem Gesetz«. In jüdischem Horizont ist es ohne Weiteres möglich, der Tora entsprechend zu leben.
- Die Argumentation des Paulus ist sprunghaft. Er schließt von einzelnen Sünden darauf, dass der Mensch unter der Macht der Sünde steht (Röm 3,9). Dies lässt sich aber aus faktischen Sünden nicht ableiten. So bleiben Buße und Vergebung Gottes ganz unberücksichtigt. Paulus gewinnt also seine Einsicht nicht durch eine Analyse von Tun und Existenz des Menschen.
- Die Passage, die man am ehesten als »anthropologische Analyse« bezeichnen könnte (Röm 7,7–25), ist nicht veranlasst durch eine Reflexion auf das sündige Ich, sondern durch die starke Annäherung von Gesetz und Sünde in 7,4–6.
Das von Paulus gebotene Bild der prinzipiell sündigen Menschheit ist ein Rückschluss aus dem Glauben an Christus. Christus kam, um eine neue Herrschaft aufzurichten, in der Sünde und Tod besiegt sind. Wer außerhalb der Herrschaft Christi steht, muss deshalb unter der Macht der Sünde stehen. Die Gedankenführung in Röm 1–3 bestätigt diese Sicht. Die Aussagen von der Misere des Menschen (1,18–3,20) laufen zu auf die Lösung in Christus. Insofern dieser Ausweg bereits in 1,16f. am Beginn des Briefes benannt war, zeigt sich der sachliche Ausgangspunkt auch als literarischer: Noch ehe Paulus die Verlorenheit der Menschen darlegt, spricht er von der Rettung, die den Menschen im Glauben eröffnet ist.