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Herrenmahl bei Paulus

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Inhaltsverzeichnis

A. Thematische Perspektiven

B. Ausgangstext: 1Kor 11,17–34

A. Thematische Perspektiven

1. Traditionsgeschichtliche Vorgaben zum Herrenmahl

Inhaltsverzeichnis

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1.1 Zwei Überlieferungsstränge

Überwiegend wird angenommen, dass die Abendmahlstradition in zwei Überlieferungssträngen bezeugt ist.

  • Eine Linie wird von Markus und Matthäus bezeugt (Mk 14,22–25; Mt 26,26–30),
  • die andere von Lukas und Paulus (Lk 22,15–20; 1Kor 11,23–25).

Genauer ist zu sagen: Lukas zeigt Spuren beider Stränge, er hat die Mk-Vorlage mit Elementen der anderen Traditionslinie verbunden.

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1.2 Vergleich der beiden Stränge

  • Wenn wir die beiden Formen miteinander vergleichen, zeigen sich zunächst folgende Gemeinsamkeiten des Handelns Jesu beim letzten Mahl:
    • Jesus nimmt Brot.
    • Er bricht das Brot.
    • Er deutet das Brot als (seinen) Leib.
    • Er nimmt den Becher/gleichfalls den Becher.
    • Jesus deutet diese Handlung, indem er eine Beziehung zu seinem Blut und dem Bund herstellt.

Vor dem Brechen des Brotes ist bei Mk und Mt eine Segenshandlung, bei Lk und Paulus das Danken eingefügt.

  • Die wichtigsten Unterschiede zwischen beiden Traditionssträngen bestehen in fünf Punkten.
    • Die mk/mt Linie bietet eine Aussage über die Heilsbedeutung des Todes Jesu nur im Rahmen des Becherwortes (Mk 14,24; Mt 26,28), während Paulus und Lukas beim Brotwort vom »Leib für« sprechen (Lk kombiniert beide Linien).
    • Nach Mk und Mt ist das Blut für die Vielen ausgegossen; folgt man der Fassung von Lukas und Paulus, hat Jesus die anwesenden Jünger angesprochen: für euch.
    • Das Bundesmotiv ist unterschiedlich ausgerichtet. In 1Kor 11,25; Lk 22,20 ist in Aufnahme von Jer 31 die Rede vom neuen Bund; dagegen ist der Bezug auf das Bundesblut in Mk 14,24; Mt 26,28 als Anspielung auf Ex 24,8 und damit auf die Schließung des Sinai-Bundes zu verstehen.
    • Einen Wiederholungsauftrag kennt nur die pl/lk Linie: »Tut dies zu meinem Gedächtnis«. Lukas bietet dies nur im Zusammenhang des Brotwortes, Paulus auch nach dem Becherwort (»dies tut, sooft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis«).
    • In Mk 14,25 par Mt 26,29 begegnet der so genannte »eschatologische Ausblick«, den Lukas vor die Abendmahlsworte gesetzt hat, im Zusammenhang eines eigenen Becherwortes (22,18, s.a. 22,16).

⇒ Ob sich aus den beiden Strängen eine ursprüngliche Fassung rekonstruieren lässt und, wenn ja, wie diese gelautet hat, ist in hohem Maß umstritten. Für die Befassung mit 1Kor 11,17–34 ist diese Frage insofern vernachlässigbar, als damit zu rechnen ist, dass Paulus die Abendmahlsüberlieferung in 11,23–25 der ihm bekannten Tradition entnommen und nicht selbst in den Wortlaut eingegriffen hat. In der Formulierung von 11,26 dürfte er sich aber selbst zu Wort melden.

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1.3 Die These von Michael Theobald zu Paschafeier und Brotbrechen

(a) Die These unterscheidet zwei grundsätzlich verschiedene Gottesdienstformen:

Paschafeier »Brotbrechen«

Judenchristliche Paschafeier (deshalb jährlicher Rhythmus) mit Gedenken des Todes Jesu, der sich historisch mit dem Paschafest verbindet.







Häufiger (etwa wöchentlich) stattfindende, in der Gestaltung im Einzelnen variable Gemeindemähler (»Brotbrechen«), anknüpfend an Jesu Mahlpraxis während seines Wirkens, gekennzeichnet durch die Ausrichtung auf die Auferweckung.

Es findet sich kein Bezug auf den Tod Jesu, sondern auf die Vermittlung des (ewigen) Lebens, insofern auch deutlich unterschieden von gewöhnlichen Mählern.

Die Abendmahlstradition (»Einsetzungsbericht«) diente als Kultätiologie dieser Pascha­feier, d.h.: Sie begründete diese Liturgie, war aber nicht Teil ihres Vollzuges (»Metatext«).

Zu ihr gab es nur einen Traditionsstrang, den Paulus in 1Kor 11,23c–25 überliefert.

 

Diese Rekonstruktion modifiziert die ältere These von zwei Mahltypen, die auf H. Lietzmann zurückgeht:

  • »Brotbrechen« als Fortführung jesuanischer Mahlpraxis unter dem Signum des Osterjubels (s. Apg 2,46), ohne Ausrichtung auf die Elemente Brot und Wein;
  • Todesgedenken unter Bezug auf das letzte Mahl Jesu, wie es in 1Kor 11 greifbar ist.

(b) Argumente für diese Rekonstruktion:

  • Die Abendmahlstradition bezieht sich ausdrücklich auf das Tun Jesu »in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde«. Dies passt sehr gut zum Gedenken des Todes Jesu im Rahmen der Paschafeier. Diese ist mit dem Motiv der Nacht (Ex 12,12.42) und des Gedenkens (Ex 12,14; 13,3) verbunden.
  • Mk 14,22–24 ist markinischer oder vormarkinischer Redaktion zuzuschreiben, nicht eigenständige Überlieferung; die Passionsgeschichte enthielt ursprünglich, wie im JohEv bezeugt, den Einsetzungsbericht nicht.
  • Greifbar wird die Form des »Brotbrechens« im lukanischen Doppelwerk (Apg 2,46; 20,7–12; auch 27,33–38) und der Didache, in denen die begrenzte Reichweite der Kultätiologie deutlich wird.

(c) Zur Diskussion:

  • Kann man Mk 14,22–24 wirklich aus der mk Passionsgeschichte lösen und als nachträglich eingefügten Text verstehen? 14,17–21.25 ergibt jedenfalls keinen guten Zusammenhang.
  • Zwar geht Theobald davon aus, dass beide Typen nicht voneinander abgeschottet sind. Dennoch fragt sich, ob der Befund im 1Kor mit der erhobenen Unterscheidung wirklich harmoniert.
    • Paulus erweckt nicht den Eindruck, dass seine Argumentation mit dem Abendmahlsbericht (11,23–26) aus einem anderen Bereich nun auf die Gemeindemähler übertragen worden wäre und er einen neuen Aspekt in die Feier des Herrenmahls einbrächte, der zuvor keine oder eine untergeordnete Rolle gespielt hätte.
    • Auch in 1Kor 10,16f. ist mit dem Bezug auf Leib und Blut Christi die Herrenmahlfeier mit dem Todesgedenken verbunden, scheint also fest etabliert zu sein in der Mahlfeier der Gemeinde von Korinth. Für eine andere Ausrichtung des Herrenmahls fehlt hier also jeder Anhaltspunkt.
  • Ob man aus dem lukanischen Doppelwerk und der Didache eine tragfähige Basis für das Zwei-Typen-Modell gewinnen kann, ist zumindest für die erstgenannte Größe nicht sicher.
    • Theobald führt neben den Bezügen auf das »Brotbrechen« am Beginn der Apostelgeschichte auch die Beschreibung der Feier in 20,7–12 an, um zu zeigen, dass der Einfluss des Abendmahlsberichts (Kultätiologie) begrenzt war. Kann man aber wegen der Beschränkung auf den Brotritus (Apg 20,11; s.a. »Brotbrechen« in Apg 2,46) die Verbindung zum passionstheologisch eingeordneten letzten Mahl Jesu ausblenden? Auch die Mahlszene der Emmaus-Geschichte (Lk 24,13–35) beschränkt sich auf das Brotbrechen (24,30). Der Rückgriff auf das Handeln beim letzten Mahl ist aber so deutlich, dass man die österlichen Konnotationen kaum von der Passionsgeschichte trennen kann.
    • Den deutlichsten Anhaltspunkt für eine Mahlpraxis ohne Bezug auf das Gedenken des Todes Jesu bietet die Didache, die in Kap. 9f. Einblick in den Ablauf der Mahlfeier und dabei gesprochene Gebete gibt. Der Tod Jesu spielt hier keine Rolle. Zentral ist der Gedanke der Sammlung der Gemeinde (wie die Körner zu einem Brot vereinigt wurden) im Blick auf die Vollendung des Reiches Gottes. Durch Jesus, den Knecht Gottes, wird den Mahlteilnehmern geistliche Speise und geistlicher Trank geschenkt und ewiges Leben eröffnet. Ob aber von hier ein Bogen geschlagen werden kann zu einer von Lukas bezeugten Form der Mahlfeier (»Brotbrechen«, s.o.), bleibt fraglich.
  • Man muss sicher mit einer gewissen Vielfalt in der frühchristlichen Mahlpraxis rechnen, der Bezug auf das letzte Mahl und den Tod Jesu muss keineswegs durchweg gegeben gewesen sein. Der Versuch, die »Kultätiologie« (Einsetzungsbericht) in seiner Reichweite als beschränkt zu erweisen, hat aber gerade im Blick auf den 1Kor mit Schwierigkeiten zu kämpfen.

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2. Herrenmahl und (Kult-)Feiern

Die Herrenmahlfeier war nicht der einzige Kontext, in dem Paulus das Thema gemeinsamen Essens im 1. Korintherbrief anklingen lässt. Die Glaubenden sind in ihren sozialen Kontakten nicht exklusiv an die Gemeinde gebunden. Daraus können Konstellationen entstehen, die Paulus (1) als unbedenklich einstuft, aber auch solche, bei denen er (2) mit Blick auf die Herrenmahlfeier eine deutliche Grenze zieht.

  • Zum ersten Aspekt: Glaubende können auf dem Markt verkauftes Fleisch essen, auch wenn nicht bekannt ist, ob es aus kultischen Zusammenhängen stammt (10,25); sie können auch Einladungen von Nichtglaubenden annehmen und sind nicht verpflichtet, nach der Herkunft des aufgetischten Fleisches zu fragen (1Kor 10,27).

    Aber: Wenn die kultische Herkunft des Fleisches offen benannt wird (10,28: ἱερόθυτόν ἐστιν, »es ist Opferfleisch«), soll man nicht essen. Es soll der Eindruck vermieden werden, das Bekenntnis zu Christus sei mit dem Götzendienst vereinbar. Nicht die Substanz als solche markiert die Grenze, sondern die Situation, in der gegessen wird. Bei Klarheit über die kultische Qualität des Fleisches tritt der Bekenntnisfall ein.
  • Zum zweiten Aspekt: Angesichts dieser Position des Paulus überrascht nicht, dass er eine Teilnahme an kultischen Begehungen an heidnischen Tempeln scharf ablehnt. Und hier argumentiert er mit der Gemeinschaft, die im Herrenmahl entsteht: Gemeinschaft mit Leib und Blut Christi (10,16f.) schließen die Gemeinschaft mit Dämonen aus, die bei der Teilnahme an heidnischen Kultfeiern entstünde. Zwar sind die Götzen Nichtse, aber es wird im heidnischen Kult den Dämonen geopfert. Mit ihnen entstünde ein Gemeinschaftsverhältnis, das demjenigen zu Christus widerspricht (10,21).

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3. Mahlpraxis in Korinth

  • Aus 1Kor 11,17–34 geht eindeutig hervor, dass die Feier des Herrenmahls mit einem Sättigungsmahl verbunden war. Wenn Paulus denen, die es bis zum Beginn der Mahlfeier nicht aushalten können, empfiehlt, zu Hause zu essen (11,22.34), ist vorausgesetzt, dass solches alltägliche Essen zum Herrenmahl in Korinth dazugehört. Für sich genommen ist dies nicht Gegenstand der Kritik des Paulus.
  • Was aus der Schilderung des Paulus zur Herrenmahlfeier in Korinth erschließbar ist (gemäß der hier vertretenen Auslegung; s.u.), passt grundsätzlich gut in ein antikes Symposion: Wer wohlhabend ist, kann bereits früh mit der cena beginnen (ca. 15 Uhr); nach dem Mahl schließt sich die Trankspende für die Gottheit an, danach das Symposion (mit Vorträgen, Gesprächen, Musik, Liedern – unterschiedlich je nach Niveau der Veranstaltung).
  • In Korinth dürfte die sakramentale Handlung (am Ort der Trankspende) ans Ende des Mahles gerückt sein, da Paulus sonst wohl noch schärfer auf die Praxis reagiert hätte, die Brot- und Becherhandlung auseinandergerissen hätte.

    Zwar wäre in diesem Fall die Mahlpraxis nicht deckungsgleich mit der von Paulus zitierten Abendmahlstradition (in ihr sind Brot- und Becherhandlung durch das Mahl getrennt: »nach dem Mahl« [11,25]). Muss man aber wirklich davon ausgehen, dass die Gemeinde von Korinth genau dem erzählerischen Moment in der Abendmahlstradition folgte und deshalb die Becherhandlung nach dem Mahl ansetzte? Auch wenn die Abendmahlstradition als Spiegel liturgischer Praxis gelesen werden kann, scheint dies keine zwingende Folgerung zu sein. Dass die Abendmahlstradition von 11,23–25 im Verlauf der Feier zitiert wurde, ist nicht vorauszusetzen. Paulus gibt keinerlei Hinweis darauf.

  • Alternative: Man unterscheidet zwischen Hauptgang (primae mensae) und Nachtisch (secundae mensae) und ordnet die Brothandlung dem Zweiten zu, gefolgt von der Becherhandlung, insofern »nach dem Mahl«, am Ort der Trankspende.

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B. Ausgangstext: 1Kor 11,17–34

1. Kontext

  • In 1Kor 7,1 hat Paulus damit begonnen, Fragen aus der Gemeinde zu beantworten, zunächst zu Ehe und Ehelosigkeit (Kap. 7), dann zum Essen von Götzenopferfleisch (Kapp. 8–10). In diesem zweiten Zusammenhang kam die Herrenmahlfeier bereits als Argument gegen die Teilnahme an Mählern, die im Zusammenhang heidnischer Kultfeiern stehen, zur Sprache (10,16f.; s.o. A. 3.).
  • In Kap. 11 wird die gottesdienstliche Versammlung in der Gemeinde von Korinth zum Thema, ohne dass dazu Fragen aus der Gemeinde vorlagen. Offensichtlich wurde Paulus, der sich in Ephesus aufhält (s. 16,8), über Vorgänge in der Gemeinde informiert. Schon in früheren Zusammenhängen ist dies geschehen, sei es dass Paulus die Informanten nennt (1,11), sei es dass er die Quelle im Dunkeln lässt (5,1).
  • Die beiden Fälle, die Paulus in Kap. 11 bespricht, sind von unterschiedlichem Gewicht. Dass Frauen, wenn sie in der Gemeindeversammlung prophetisch reden, ihren Kopf verhüllen sollen, begründet Paulus mit sichtlicher Mühe und bezieht sich zum Schluss auf das in den Gemeinden eben Übliche (11,2–16). Dagegen sind die Missstände, die er in 11,17–34 bespricht, so gewaltig, dass er das Gericht ins Spiel bringt, um zur Abstellung der falschen Praxis zu motivieren (11,29).

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2. Aufbau

VV.17–22:       Beschreibung und Problematisierung der Situation

VV.23–26:       Anführung der Abendmahlstradition und Deutung der Herrenmahlfeier

VV.27–34:       Konsequenzen für die (rechte) Feier des Herrenmahls

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3. Auslegung

Inhaltsverzeichnis

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VV.17–22

Wenn ich aber folgendes vorschreibe, so lobe ich nicht, dass ihr nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren zusammenkommt. 18 Denn erstens höre ich, dass, wenn ihr in der Gemeinde zusammenkommt, Spaltungen unter euch sind, und zum Teil glaube ich es. 19 Denn es müssen auch Parteiungen unter euch sein, damit die Bewährten unter euch offenbar werden. 20 Wenn ihr nun zusammenkommt, so ist es nicht [möglich], das Herrenmahl zu essen. 21 Denn jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg (προλαμβάνει), und der eine ist hungrig, der andere ist betrunken. 22 Habt ihr denn nicht Häuser, um zu essen und zu trinken? Oder verachtet ihr die Gemeinde Gottes und beschämt die, welche nichts haben? Was soll ich euch sagen? Soll ich euch loben? Hierin lobe ich nicht.

VV.17–20  Im Gegensatz zu 11,2, wo Paulus die Adressaten ausdrücklich lobt, ehe er die anstehende Frage zur gottesdienstlichen Versammlung bespricht, stellt er die Ausführungen zur Herrenmahlfeier unter kritisches Vorzeichen, wenn er sagt: »Ich lobe euch nicht« (11,17). Er spricht von Spaltungen, denen er an dieser Stelle (anders als in 1,10ff. zu den verschiedenen Gruppen) einen hintergründigen Sinn abgewinnen kann. Sie dienen dazu, die Bewährten unter den Korinthern zu kennzeichnen (V.19). Damit erhalten die Ausführungen einen mahnenden Unterton: Es gibt offenkundig auch solche, für die dieses Prädikat nicht zutrifft. Ehe Paulus Näheres zu den Spaltungen sagt, beurteilt er grundsätzlich die Situation in Korinth: Was dort geschieht, ist nicht die Feier des Herrenmahls. Die Wendung οὐκ ἔστιν κυριακὸν δεῖπνον φαγεῖν (V.20) ist wohl so zu verstehen, dass die Praxis in Korinth dem Herrenmahl widerspricht: Das ist kein Essen des Herrenmahls. Oder man deutet ἔστιν im Sinn von »es ist möglich«. In jedem Fall schließt Paulus aus, dass die Praxis in der Gemeinde etwas mit der Herrenmahlfeier zu tun hätte.

VV.21–22  Erst nach diesem Urteil erfahren wir von den Missständen. Die Deutung der vorausgesetzten Situation ist aber strittig. Aufs Ganze gesehen sind zwei Probleme zu nennen.

(1) Kritisiert Paulus den unterschiedlichen Beginn der Herrenmahlfeier? Fangen einige schon mit dem Sättigungsmahl an, ehe alle zusammengekommen sind? Die Antwort hängt ab vom Verständnis zweier Verben. Heißt προλαμβάνειν (V.21) »vorwegnehmen« oder ist die zeitliche Komponente nicht notwendig vorauszusetzen, so dass man auch »zu sich nehmen« übersetzen könnte? Zum Zweiten: Bedeutet ἐκδέχεσθαι in 11,33 »aufeinander warten« oder ist gemeint »einander annehmen, (gastlich) aufnehmen«?

Geht man aus vom Vorwegnehmen des eigenen Mahls, dann ist folgende Situation vorausgesetzt: Die Gemeindemitglieder treffen zu unterschiedlichen Zeiten ein. Diejenigen, die früher kommen, beginnen mit dem Mahl und sind schon leicht angeheitert, bis diejenigen dazustoßen, die wohl nicht so frei über ihre Zeit verfügen können wie die anderen – wahrscheinlich Leute aus der Unterschicht. Ein sozialer Gegensatz wäre in diesem Fall zumindest angedeutet. Nach M. Klinghardt ist das zeitliche Verständnis ausgeschlossen, denn es heißt: Jeder nimmt sein eigenes Mahl ein. Eine zeitliche Deutung kann aber die Kritik nur auf diejenigen beziehen, die mit dem Mahl vor dem Eintreffen der übrigen begonnen hätten. Paulus kritisiere nicht den unterschiedlichen Beginn, sondern dass der Gemeinschaftscharakter des Mahls verkannt werde, wenn jeder seine eigene Portion isst. Dieses Verhalten muss nach der Weisung des Paulus ausgeschlossen werden: »Nehmt einander an« (11,33).

Aber: Das »jeder« muss nicht so genau genommen werden, es kann rhetorische Funktion haben; Paulus spricht tatsächlich nur einen Teil der Gemeinde direkt an (V.22: »verachtet ihr diejenigen, die nichts haben?«). Die zeitliche Deutung ist nicht zu widerlegen. Im Zusammenhang mit der zweiten Frage ergibt sich, dass sie zu bevorzugen ist.

(2) Spielen soziale Differenzen bei den Missständen eine Rolle, geht es auch um den Gegensatz von Arm und Reich?

A. Lindemann verneint die Frage. Ihm zufolge werden nicht die Wohlhabenden kritisiert, die über mehr verfügen und sich so an den mitgebrachten eigenen Lebensmitteln satt essen, während die Armen hungern. Entscheidender Gegenstand der Kritik sei vielmehr das je für sich und nicht gemeinschaftlich eingenommene eigene Mahl. Es stehen sich gegenüber das κυριακὸν δεῖπνον (»Herrenmahl«, V.20) und das ἴδιον δεῖπνον (»eigenes Mahl«, V.21). Paulus kritisiert den Individualismus in der Gemeinde von Korinth. Als Grund für diese Einschätzung nennt Lindemann zum einen die Wendung ἐν τῷ φαγεῖν in V.21 (»beim Essen«). »Das eigene Mahl« qualifiziert dieses Essen, die Kritik richtet sich auf die Art, wie gegessen wird. Zum andern bezieht sich Lindemann auf die beiden Weisungen, zu Hause zu essen (V.22.34). Wenn man den Gegensatz von Hungern und Betrunkensein (V.21) im Kontext sozialer Gegensätze versteht, wäre dieser Rat des Paulus »überaus zynisch«.

Aber: Warum formuliert Paulus den Gegensatz von »Hunger« und »Trunkensein« (V.21)? Offensichtlich führt das individuell eingenommene Mahl zu solchen Differenzen. Außerdem: Warum werden die »nicht Habenden« durch das angeprangerte Verhalten beschämt (V.22)? Dass sie unterschieden werden von den direkt Angesprochenen (»beschämt ihr die nicht Habenden?«) weist im Übrigen darauf hin, dass Paulus nur eine bestimmte Gruppe im Auge hat und nicht allgemein die Teilnehmer des Herrenmahls in Korinth.

Dies deutet auf soziale Differenzen im Hintergrund des korinthischen Herrenmahls, Paulus hat allerdings nicht die Situation vor Augen, dass die einen am Verhungern sind und die anderen sich die Bäuche vollschlagen. In diesem Fall würde er zum Teilen aufrufen. Er geht von einer sozial differenzierten Situation aus, die für das zeitliche Verständnis der umstrittenen Verben spricht: Es gibt in der Gemeinde Wohlhabende, die freier über ihre Zeit verfügen und deshalb früher mit dem Mahl beginnen, so dass eine für Paulus groteske Lage entsteht: die später Eintreffenden stoßen auf eine bereits gesättigte Runde.

Paulus meint also: Wenn es jemand nicht aushalten kann bis zum gemeinsamen Mahlbeginn, soll er zu Hause essen, aber nicht den Anfang der Herrenmahlfeier vorwegnehmen. Trifft dies zu, dürfte das Essen und Trinken von Brot und Wein (als Leib und Blut Christi) an das Ende des gemeinsamen Mahls gerückt sein. Auf einen ungleichzeitigen Beginn dieses Teils hätte Paulus wohl noch schärfer reagiert.

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VV.23–26

23 Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe, dass der Herr Jesus in der Nacht, in der er überliefert wurde, Brot nahm, 24 und als er gedankt hatte, es brach und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch ist; dies tut zu meinem Gedächtnis. 25 Ebenso auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, dies tut, sooft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis. 26 Denn sooft ihr dieses Brot esst und den Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.

VV.23–25  Dass das Verhalten bei der Herrenmahlfeier in der korinthischen Gemeinde falsch ist, begründet Paulus mit der Abendmahlstradition. Diese schließt begründend (γάρ) an die Kritik in V.22 an: »Ich lobe euch nicht, denn ich habe vom Herrn empfangen …« Um zu zeigen, wie falsch die Herrenmahlpraxis in der Gemeinde von Korinth ist, zitiert Paulus die Abendmahlstradition. Wie in 1Kor 15,3–5 ist das Traditionsstück durch die Fachbegriffe von empfangen und überliefern gekennzeichnet. Das Ende in V.25 ist dadurch markiert, dass sich der folgende Satz nicht mehr auf die Situation beim letzten Mahl Jesu bezieht, sondern auf die Herrenmahlfeier der Gemeinde. Paulus spricht die Adressaten des Briefes an. Auffälligerweise heißt es (anders als in 1Kor 15,3), das Zitierte sei »vom Herrn« empfangen. Da es sich um ein Überlieferungsstück handelt, das auch in Lk 22 seine Spuren hinterlassen hat, ist hier nicht an direkten, dem Paulus geltenden Offenbarungsempfang zu denken. Die Zuschreibung an den Herrn macht deutlich, dass die zitierte »Überlieferung als Wort des Kyrios verstanden« ist (W. Schrage).

Er kontrastiert das kritisierte Verhalten, das auf die Beschämung anderer hinausläuft, mit dem wachgerufenen Lebenseinsatz Jesu, der Leib und Blut »für euch« gegeben hat. Der Aspekt der Sühne, der mit der Abendmahlsüberlieferung eigentlich verbunden ist, hat im Rahmen des Problems, in dem sie Paulus anführt, keine Bedeutung. Er hebt im Kontext (anders als in Röm 3,25) nicht darauf ab, dass in Jesu Tod Sündenvergebung eröffnet ist. Das »für« hat hier vor allem den Sinn von »zugunsten von«, zugespitzt auf die Hingabe des Lebens, ohne dass näher ausgeführt würde, inwiefern diese Hingabe anderen zugutegekommen ist. Grundsätzlich wird man zu dieser Frage nicht um den Gedanken der Sühne herumkommen, für Paulus ist es aber kennzeichnend, dass er vor allem den Aspekt des Lebenseinsatzes betont. Bereits an früherer Stelle hieß es im 1Kor vorwurfsvoll zu rücksichtslosem Verhalten: »Der Schwache geht an deiner Erkenntnis zugrunde, der Bruder, um dessentwillen Christus gestorben ist« (8,11). Und in Röm 14,15: »Richte durch eine Speise nicht den zugrunde, für den Christus gestorben ist.« In diese Linie fügt sich auch das Zitat der Abendmahlstradition an unserer Stelle ein. Dabei kommt die Anrede-Form in der Für-Aussage (»für euch«) dem Anliegen des Paulus entgegen: Diejenigen, die dem Auftrag des Herrn gemäß das Abendmahl feiern, werden direkt als diejenigen benannt, denen Jesu Lebenseinsatz gegolten hat – die aber nun dieses Mahl nicht angemessen halten. Paulus betont: Wer teilhat an diesem Leib (s. 10,17), kann in seinem Verhalten unmöglich vom Impuls des »für« absehen, wie es bei der Herrenmahlfeier in Korinth geschieht.

Zu weiteren Aspekten der Abendmahlstradition s. die Ausführungen im Rahmen der Passionsgeschichte.

V.26  Mit V.25 ist das Zitat der vom Herrn empfangenen Überlieferung abgeschlossen. Danach spricht Paulus die Adressaten wieder direkt an. Durch den begründenden Anschluss (γάρ) ist ein enger inhaltlicher Zusammenhang zur vorherigen Aussage vom Gedenken (εἰς τὴν ἀνάμνησιν) hergestellt.

Die Wendung »tut dies zu meinem Gedächtnis« zielt nicht nur auf ein Erinnern; sie meint nicht nur, dass die Glaubenden an Jesus denken. Es geht um »eine Vergegenwärtigung des Vergangenen, wie man sie besonders beim jüdischen Pascha vollzog und in späterer Zeit explizit reflektierte« (J. Kremer; er bezieht sich hier auf die rabbinische Aussage, jeder Jude, der das Pascha feiert, solle sich so betrachten, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen).

Der Satz deutet das Tun der Gemeinde bei der Feier des Herrenmahls ohne Bezug auf die konkrete kritikwürdige Praxis: Wer teilhat an Brot und Becher, verkündet Jesu Tod, also die Hingabe des Lebens für andere, bis zur Wiederkunft. Man zieht den Vers deshalb am besten zur Abendmahlsüberlieferung: Paulus will in diesem Abschnitt deutlich machen, was sich bei der Feier des Herrenmahls ereignet.

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VV.27–34

27 Wer also unwürdig (Adverb: ἀναξίως) das Brot isst oder den Kelch des Herrn trinkt, wird des Leibes und Blutes des Herrn schuldig sein. 28 Der Mensch aber prüfe sich selbst, und so esse er von dem Brot und trinke von dem Kelch. 29 Denn wer isst und trinkt, isst und trinkt sich selbst Gericht, wenn er den Leib nicht [richtig] beurteilt/unterscheidet. 30 Deshalb sind viele unter euch schwach und krank, und ein gut Teil sind entschlafen. 31 Wenn wir uns aber selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet. 32 Wenn wir aber vom Herrn gerichtet werden, so werden wir gezüchtigt, damit wir nicht mit der Welt verurteilt werden. 33 Daher, meine Brüder, wenn ihr zusammenkommt, um zu essen, so wartet aufeinander (ἐκδέχεσθε). 34 Wenn jemand hungert, der esse daheim, damit ihr nicht zum Gericht zusammenkommt. Das übrige aber will ich anordnen, sobald ich komme.

VV.27f.  Was folgt aus der aufgezeigten Bedeutung des Herrenmahls für deren Feier? Darum geht es im Folgenden. Der Zusammenhang wird dadurch verdeutlicht, dass die zuletzt erwähnte Teilhabe an Brot und Becher aufgegriffen und nun auf eine falsche Praxis bezogen wird: Wer dies auf unwürdige Weise tut, wird an Leib und Blut des Herrn schuldig sein (V.27). Es geht in diesem Zusammenhang nicht um den persönlichen Status des Würdigseins, sondern um die Art und Weise, wie das Herrenmahl gefeiert wird. Paulus gebraucht ein Adverb (ἀναξίως), das eine Handlung qualifiziert, kein Adjektiv (ἀνάξιος), das man als Prädikativum übersetzen könnte: Wer als Unwürdiger das Brot isst … Auch die Selbstprüfung (V.28) bezieht sich dann auf die Art und Weise, in der das Mahl gehalten wird. Deshalb wird das Ergebnis der Prüfung auch mit einem »so« (οὕτως) verbunden.

VV.29–32  Begründet wird die Mahnung mit dem Bezug auf das Gericht (κρίμα), das aus der falschen Beurteilung des Leibes (σῶμα) folgt. An dieser Stelle spricht Paulus nicht mehr vom »Leib des Herrn«, sondern nur noch vom »Leib«. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit auch die Gemeinde als Leib Christi eingeschlossen zu sehen. In diesem Bild dominiert der Gedanke der Einheit (s. 10,17 [hier in Verbindung mit dem eucharistischen Leib]; 12,13). Das »Nicht-Unterscheiden« (μὴ διακρίνων) des Leibes (im Sinne von »nicht richtig beurteilen«) dürfte primär nicht gegen die Profanierung der eucharistischen Gaben gerichtet sein. Paulus sieht die Gefahr nicht in der Profanierung der Gaben, sondern in den fehlenden Folgen für das Miteinander in der Gemeinde. Die Kritisierten beurteilen nicht richtig, was in der Feier des Herrenmahls geschieht: Teilhabe am (eucharistischen) Leib Christi, wodurch auch der ekklesiologische Leib Christi auferbaut wird. Dies aber erfordert ein Verhalten, das diesem auf Gemeinschaft und Einheit zielenden Geschehen entspricht.

Hinsichtlich des Gerichts unterscheidet Paulus zwar zwischen den vom Herrn Gerichteten und der Welt, wahrscheinlich mit Blick auf die Krankheiten und Todesfälle, die er in V.30 auf die falsche Mahlpraxis zurückgeführt hatte. Dabei geht es nicht um die Zurechnung persönlicher Schuld, sondern um die Vergiftung der Lebenssphäre durch das falsche Verhalten der Gemeinde – und die wirkt sich aus in Krankheiten und Todesfällen. Auch in dieser Form ein schwieriger Gedanke, aber nicht so anstößig, wie wenn aus dem Geschick unmittelbar auf falsches Verhalten geschlossen würde. Die negativen Folgen werden als Züchtigung durch den Herrn vorgestellt – nicht als Gericht, sondern mit der Funktion, das Gericht zu vermeiden (11,32). Trotz dieser Differenzierung taucht aber das Gericht auch für die Glaubenden mahnend auf, denn eine Garantie, dass jene Züchtigungen ihr Ziel erreichen, gibt es nicht. Wenn die Funktion der Vermeidung des Gerichts erwähnt wird, ist indirekt auch die Möglichkeit eröffnet, dass die »Verurteilung mit der Welt« doch gegeben sein könnte.

VV.33f.  Wie das Gericht zu vermeiden ist, hält Paulus am Ende noch einmal fest: »Wartet aufeinander!« Die temporale Deutung von ἐκδέχεσθαι im Sinne von »warten« wurde bei der Auslegung von VV.21f. begründet. Man kann sie durch die Tatsache bestärkt sehen, dass Paulus bei dieser Auslegung eine klare praktische Schlussfolgerung aus dem Gesagten zieht. Versteht man das Verb dagegen im Sinne von »einander annehmen« würde eine recht verwaschene Weisung erteilt. Auch passt der Ratschlag, im Falle großen Hungers zuhause zu essen (V.34) gut im Anschluss an die Aufforderung zum Warten.

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