Zum Inhalt springen

Das Evangelium nach Matthäus

Verfasser und Adressaten

Papias von Hierapolis identifiziert den Verfasser des Matthäus-Evangeliums (Mt) bzw. den Verfasser einer Urfassung des heutigen Matthäus-Evangeliums mit dem Apostel Matthäus. Eine Analyse des Matthäusevangeliums widerspricht jedoch dieser Zuschreibung. Der Verfasser war kein Augenzeuge Jesu, sondern hat unterschiedliche Quellen verarbeitet (s. Zwei-Quellen-Theorie). Der Verfasser bleibt auch im Falle des MtEv anonym. 

Feststellen lässt sich allerdings, dass es sich um einen Judenchristen handeln muss. Anders als bei Mk scheinen dem Autor (und zugleich seinen Adressaten) jüdische Bräuche vertraut. Zudem ist der Fokus stärker auf Israel gerichtet, wobei die Öffnung auf die universale Mission hin ebenso deutlich herausgehoben wird.

nach oben

Zeit und Ort der Abfassung

Mt verwendet Mk als Quelle und ist daher später anzusetzen. Da die Verbreitung des MkEv sicher einige Zeit in Anspruch genommen haben wird, setzt man die Entstehung des Mt-Evangeliums zumeist ab 80 (- 90) an.

Das Evangelium wird entweder im palästinisch-syrischen Grenzgebiet oder in Syrien entstanden sein, da die starke judenchristliche Prägung um 80 n.Chr. am ehesten in dieser Gegend zu erwarten ist; Mt 4,24 mit dem kontextuell unmotivierten Bezug auf Syrien (»und sein Ruf verbreitete sich in ganz Syrien«) gibt einen Hinweis auf den Entstehungsort.

nach oben

Literarischer Charakter

Inhaltsverzeichnis

I. Übernahme des Mk-Rahmens

Mt folgt ab 12,1 dem Mk-Rahmen, davor hat er stärker in die Stoffanordnung eingegriffen, wenngleich er sich auch hier bisweilen an Markus orientiert (s. z.B. die Einordnung der Bergpredigt nach Mk 1,21f).

Mk 1,21f Mt 5-7
»… und sogleich ging er am Sabbat in die Synanogen und lehrte Inhaltliche Entfaltung der Lehre in der Bergpredigt
»Und sie gerieten außer sich über seine Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.« »und es geschah, als Jesus diese Worte beendet hatte, da gerieten die Scharen außer sich über seine Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.« (7,28f: Abschluss der Bergpredigt)

 

Mt übernimmt (und verstärkt z.T.) die Gegenüberstellung von Galiläa und Jerusalem aus dem MkEv; ebenso die »theologische Topographie« (v.a. »der Berg«).

 

Systematisierung des Stoffes

(1) Wenn Mt den Mk-Faden verlässt, zeigt sich ein Hang zur Systematisierung des Stoffes, v.a. in den Reden:

Bergpredigt (Mt 5-7) Anknüpfung an Q, Sondergut, kaum Mk-Stoff
Aussendungsrede (Mt 10) Stoffe aus Mk und Q sowie Sondergut
Gleichnisrede (Mt 13) Anknüpfung an Mk 4, dazu ein Gleichnis aus Q und vor allem Sondergut
Gemeinderede (Mt 18) Stoffe aus Mk und Q sowie Sondergut
Pharisäerrede (Mt 23) Stoffe aus Mk und Q sowie Sondergut
Endzeitrede (Mt 24f) Anknüpfung an Mk 13, dazu Stoffe aus Q und Sondergut

Hält man sich streng an das Erscheinen der Abschlusswendung (»und es geschah, als Jesus diese Worte beendet hatte …«), wird die Pharisäerrede allerdings von den übrigen Reden abgesetzt: sie weist diese Wendung nicht auf.

(2) Die Berufung der Zwölf wird direkt vor der Aussendung erzählt (10,1-3) / Erzählstoff wird im Wunderzyklus (Kap. 8f) gebündelt.

 

II. Verknüpfung einzelner Stücke

Dies geschieht durch Zeitanschluss (z.B. 13,1; vgl. Mk 4,1), Ortsanschluss (z.B. 12,9; vgl. Mk 3,1) oder Geschehensanschluss (z.B. 8,18).

 

III. Der Vorrang der Worte Jesu vor den Taten

Die Abfolge von Bergpredigt (Wort) und Wunderzyklus (Tat), durch die Inklusion 4,23/9,35 zusammengebunden, ordnet das Wort vor.

In den Wundergeschichten kürzt Mt erzählerische Elemente, sodass das Wort Jesu deutlicher hervortritt. Eine Wunderkritik ist mit dieser Zuordnung nicht verbunden.

nach oben

Zur Theologie des Matthäus-Evangeliums

Inhaltsverzeichnis

I. Christologie

Die Besonderheiten der mt Christologie lassen sich durch Diskussion zweier Hoheitstitel erfassen, in denen sich die Spannung zwischen Sendung zu Israel und weltweiter Mission spiegelt.

Als Sohn Davids ist Jesus mit der Heilshoffnung Israels verbunden: Er ist der verheißene Heilbringer, der Messias/Christus, der König Israels. Als Sohn Gottes kommt ihm universale Macht zu.

 

Sohn Davids

Das besondere Interesse an diesem Titel zeigt sich an der Aufnahme in den ersten Satz des Werks (1,1) wie auch in der gehäuften Verwendung im eigentlichen Erzählfaden (9,27; 12,23; 15,22; 20,30.31; 21,9; 21,15; 22,42.45).

Da sich die Bezeichnung Jesu als Davidssohn überwiegend im Zusammenhang von Heilungen findet, könnte eine Traditionslinie aufgenommen sein, die sich vor allem an Salomo heftete. Ihm wurde in jüdischer Tradition Kenntnis von heilenden Pflanzen und Fähigkeit zur Dämonenaustreibung zugeschrieben. Diese nicht-messianische Traditionslinie wäre im MtEv mit der messianischen verbunden, die auf die Abstammung des Messias von David abhob.

Im Erzählgang des MtEv wird die Rede vom Davidssohn folgendermaßen eingebracht:

  • Durch den Stammbaum werden die Leser noch vor Beginn der eigentlichen Erzählung auf die Davidssohnschaft hingewiesen.
  • Jesus wird als Sohn Davids um Heilung gebeten.
  • Die Scharen reagieren auf das Wirken Jesu zunächst verhalten (12,23), dann ausdrücklich mit dem Bekenntnis zu Jesus als Sohn Davids (21,9.15). Die Pharisäer und die Hierarchen in Jerusalem lehnen die Davidssohnschaft Jesu ab (12,24; 21,15f).

 

Sohn Gottes

Auf drei Ebenen wird die Bedeutung Jesu als Sohn Gottes entfaltet:

> Kommunikation zwischen Autor und Leser

  • Zunächst wird durch die geistgewirkte Empfängnis Jesus als Sohn Gottes erzählerisch dargestellt, ohne den Titel »Sohn Gottes« zu verwenden (1,18-25). Titular aufgegriffen wird dies in 2,15.
  • Die Himmelsstimme nach der Taufe Jesu (3,17) hat keine Adressaten auf der Erzählebene, zielt also auf die Leser.
  • In der Versuchungsgeschichte werden allein die Leser Zeugen, wie Jesus seine Gottessohnschaft bewährt.
  • Das Bekenntnis der Dämonen in 8,29 ist außerhalb des eigentlichen Wirkungsgebiets angesiedelt und bleibt in der Erzählung folgenlos.

> Jüngerkreis

Bei der Redaktion von Seewandelgeschichte und Messiasbekenntnis hat Mt den Gottessohn-Titel eingebracht (14,33; 16,16).

Die Himmelsstimme in 3,17 und 17,5 hat Mt aneinander angeglichen. Was zunächst dem Leser mitgeteilt wurde, wird nun auf der Erzählebene den Jüngern gesagt – und weitergeführt (»hört auf ihn«): Es genügt nicht, um die Gottessohnschaft Jesu zu wissen; es gilt auch das zu beachten, was Jesus den Jüngern sagt.

> Passion

Erstmals im Verhör vor dem Hohen Rat wird die Gottessohnwürde Jesu öffentlich verhandelt. Von ihr kann nur gesprochen werden, wenn auch von Jesu Passion gesprochen wird (s. Mk).

Mt fügt in die Antwort Jesu (26,64) »von jetzt an« ein. Wahrscheinlich hat er den Vorgang der Inthronisation, der Einsetzung in göttliche Macht im Blick, die »jetzt«, in dem durch das Verhör mit seinem Schuldspruch initiierten Tod Jesu, geschieht (s.a. 27,51-54).

Deshalb bringt er den Gottessohn-Titel, über Mk hinausgehend, in die Verspottungsszenen ein (27,40.42). Was die Spottenden verlangt haben, ein Eintreten Gottes für seinen Sohn, geschieht nicht in der Bewahrung vor dem Kreuzestod, sondern im Tod am Kreuz.

► Es zeigt sich eine Dynamik in der Gottessohn-Christologie: Jesus ist Sohn Gottes von Anfang an, dies wird aber erst im Kreis der Jünger bekannt, ehe es im Verhältnis zu den Gegnern eine Rolle spielt und auf den Tod zugespitzt wird.

 

Erfüllungszitate

Begebenheiten aus dem Leben Jesu werden als Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen gedeutet. Eingeleitet werden Erfüllungszitate mit der stereotypen Formel (in Details variabel)

► »(Dies ist geschehen), damit sich erfüllt, was gesagt ist durch den/die Propheten«,

es folgt das Zitat der entsprechenden Stelle aus dem Alten Testament.

1,22f Geistgewirkte Empfängnis des Retters
2,15 Flucht nach, Aufenthalt in und Rückkehr aus Ägypten
2,17f Kindermord in Bethlehem
2,23 Wohnungnahme Josefs in Nazareth
4,14-16 Umzug Jesu nach Kapharnaum
8,17 Krankenheilungen
12,17-21 Verbot an Geheilte, Jesus bekannt zu machen
13,35 Verkündigung in Gleichnissen
21,4 Einzug Jesu in Jerusalem
27,9f Kauf eines Ackers für das Begräbnis von Fremden mit den dreißig Silberlingen des Judas

 

(1) Erfüllungszitate entfalten grundlegend die Bedeutung Jesu Christi

  • durch Bezug auf wichtige Hoheitstitel: Immanuel (1,22f); Sohn Gottes (2,15); König Israels (21,4f)
  • durch Häufung in der »Vorgeschichte«: vier der zehn Zitate in Mt 1f: das Leben Jesu entspricht von Anfang an dem Willen Gottes.

(2) Erfüllungszitate interpretieren zwei Charakteristika des Wirkens Jesu

  • das heilende Wunderwirken (8,17)
  • die Verkündigung in Gleichnissen (13,35)

(3) Erfüllungszitate klären den universalen Sinn der Sendung Jesu

  • im Rahmen des Umzugs Jesu nach Kapharnaum (4,14-16)
  • zur Deutung der Schweigegebote an Geheilte (12,17-21)

Ein Erfüllungszitat erscheint im Rahmen der Passion, zum Ende des Judas (27,9f).

 

II. Ekklesiologie

Das Bild von Glaubenden und Gemeinde

Dass die Darstellung der Jünger im MtEv transparent ist für die Glaubenden zur Zeit des Evangelisten, kann man an mehreren Beobachtungen festmachen:

  • In der Gemeinderede (Kap. 18) ist deutlich die Situation der sesshaften Ortsgemeinde gespiegelt (v.a. 18,15-20).
  • In 23,10 spricht Jesus von Christus wie von einer anderen Person: eine für die Gemeinde aktuelle Frage wird mit Blick auf Christus besprochen.
  • Die Aussendungsrede (Kap. 10) kommt ohne Aussendung aus. Es geht also v.a. um die Inhalte der Rede, die auf die Adressaten des MtEv zielen.
  • In 28,19 wird der Jüngerbegriff auch für die nachösterlich gewonnenen Glaubenden gebraucht (»zu Jüngern machen«).

Anders als bei Mk sind die Jünger nicht unverständig. Mehrfach wird ausdrücklich festgestellt, dass sie die Worte Jesu verstehen: 13,51: die Gleichnisrede; 16,12: die Belehrung über Sadduzäer und Pharisäer; 17,13: die Belehrung über Johannes den Täufer als wiederkehrender Elija.

Sie stehen allerdings in der Gefahr des Kleinglaubens (6,30; 8,26; 14,31; 16,8).

 

Kirche und Israel

Spannungen

Einerseits wird die besondere Erwählung Israels wie in keinem anderen Evangelium betont und die Sendung Jesu auf Israel beschränkt (10,5f; 15,24). Andererseits richtet sich der nachösterliche Missionsauftrag auf »alle Völker«(28,19).


Grund für den Wechsel der Adressatenschaft

Häufig wird die Ausweitung in der Ablehnung Jesu durch Israel begründet, mit Hinweis auf

  • 21,4: Wegnahme der Basileia zugunsten eines [offensichtlich anderen] Volkes,
  • 27,25: kollektive Übernahme der Verantwortung für Jesu Hinrichtung durch »das ganze Volk« und
  • 22,8f: Ersatzgäste anstelle der eigentlich Geladenen.


Dagegen lässt sich anführen:

  • Mt erzählt nicht von einer Ablehnung Jesu durch das Volk Israel, sondern durch die Führung des Volkes (z.B. 12,14; 26,3f.57) und durch die Stadt Jerusalem (z.B. 2,3; 16,21; 23,37).
  • In 27,25 wird diese Differenzierung nicht aufgehoben. Eine Ablehnung durch »das ganze Volk« (im Sinne Israels) ist szenisch nicht darstellbar. Mt tritt aber nicht durch eine Pause aus der Erzählung heraus. »Das ganze Volk« bezeichnet die zuvor genannte Volksmenge. Nicht Israel hat seinen Messias abgelehnt, sondern die Einwohner Jerusalems. So ist auch das Strafgericht auf Jerusalem konzentriert (22,7; 23,37f).

► Der Grund für den Wechsel ist in der Christologie des Mt zu suchen (K. Backhaus; M. Konradt). Der Einsetzung in universale Macht (28,18) entspricht die Sendung der Jünger zu allen Völkern.

Zur Stellung Israels

Die universale Ausrichtung der nachösterlichen Mission deutet, wenn christologisch begründet, nicht die Verwerfung Israels an. Die Sendung zu den »Städten Israels« dauert bis zur Parusie (10,23).

Die Gestalt des Gottesvolkes verändert sich aber durch das Hinzukommen der Heiden. Das Christusbekenntnis erhält nun entscheidendes Gewicht. Das erwählte Volk soll sich aber, wie auch die Heiden, zu seinem Messias bekennen.

 

III. Ethik

Die Bedeutung des Handelns

Von der ersten bis zur letzten Rede Jesu wird die Bedeutung des Handelns eingeschärft:

  • Bergpredigt mit dem Abschluss in 7,21-27
  • Grundsätzliche Gerichtsaussage in 16,27
  • Gleichnis vom hochzeitlichen Gewand (22,11-14) vor dem Hintergrund des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen gelesen (13,24-30.36-43)
  • Große Endgerichtsszene in 25,31-46

 

Jesus und die Tora

Drei Aussagelinien sind in dieser Frage zu entdecken:

  • Die weitere Gültigkeit des Gesetzes wird festgestellt oder es wird von ihr ausgegangen (5,17-19; 23,3.23; siehe auch 11,13 im Vergleich zu Lk 16,16a).
  • Der Anspruch des Gesetzes wird in einer zusammenfassenden Sentenz gebündelt (7,12; 22,40).
  • Manche Aussagen ergehen im Rahmen eines Streits um das rechte Verständnis der Tora: 5,21-48 (Antithesen); 12,1-14 (Sabbat); 15,1-20 (rein und unrein); 19,3-9 (Ehescheidung).

Mt betont die Erfüllung der Tora durch Jesus (5,17). Dies bedeutet:

  • Einerseits richtet sich Jesus nicht gegen das Gesetz, sondern legt dessen eigentlichen Sinn frei;
  • andererseits muss dieser Sinn erst freigelegt werden, er ergibt sich nicht aus dem bislang Gültigen, sondern aus der Auslegung Jesu. Die geschieht nicht willkürlich, sondern orientiert am Gebot der Gottes- und Nächstenliebe – der Zusammenfassung von »Gesetz und Propheten« (22,40).

nach oben

Anlass und Zweck

Der Anlass für die Abfassung des MtEv ist am besten in den Spannungen zu suchen, die das Werk kennzeichnen (v.a. zur Rolle Israels). Dies weist auf einen Konflikt mit der jüdischen Umwelt, nicht mit dem Judentum.

Ein völliger Bruch ist angesichts der bleibenden missionarischen Bemühung um Israel auszuschließen. Dies verhindert aber nicht eine institutionell fassbare Trennung zwischen mt Gemeinde und Synagoge.

Ein Hinweis auf »Bruchstellen« gibt die Rede von »ihren Synagogen« (4,23; 10,17; u.ö.). Von 23,34, einer Passage aus der Pharisäerrede, her dürften die Synagogen v.a. den Pharisäern zugeordnet sein (»eure Synagoge«). Die mt Gemeinde empfindet die von den Pharisäern geprägte Synagoge nicht mehr als eigenen Ort.

Dies wird bestätigt durch das äußerst negative Bild der Pharisäer im MtEv. Aus 23,2-3a lässt sich keine Übereinstimmung mit den Pharisäern in Fragen der Gesetzesauslegung herauslesen.

Die Tendenz, die Tora in einem Satz zu bündeln, kann man als Versuch deuten, eine Tora-Observanz der Heiden ohne Beachtung ritueller Vorschriften zu begründen.

nach oben