Konflikte um die Gemeinschaft Jesu mit Sündern
und seine Sabbatauslegung
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Inhaltsverzeichnis
A. Thematische Perspektiven
1. Gemeinschaft Jesu mit Sündern
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1.1 Die Bedeutung der Vergebungsbotschaft im Rahmen des Wirkens Jesu
Beim Überblick über die Verkündigung Jesu wurde deutlich, dass im Zentrum der Botschaft Jesu von der Basileia die Zusage göttlicher Vergebung steht. Die Besonderheit der Auslegung des Begriffes »Königsherrschaft Gottes« durch Jesus ist neben dem zeitlichen Aspekt des bereits geschehenen Anbruchs in diesem Inhalt zu suchen: Wenn Gott seine Herrschaft in Israel aufrichtet, dann bedeutet dies, dass er alle annimmt und die Grenze zwischen Sündern und Frommen nicht mehr zählt.
Darin liegt ein entscheidender Unterschied zur Botschaft Johannes des Täufers, die Jesus offensichtlich zunächst akzeptiert hatte. Er hat sich nämlich von Johannes taufen lassen, ein sicheres historisches Faktum, das nur erklärlich ist, wenn man annimmt, dass Jesus der Predigt des Täufers zugestimmt hat. Sein eigenes öffentliches Wirken setzt aber diese Predigt nicht fort, sondern hat eigene Akzente. Dies ergibt sich jedenfalls, wenn man die überlieferten Inhalte der Täuferbotschaft etwas näher betrachtet (zugegebenermaßen ist das Material nicht umfangreich).
- Im Zentrum der Botschaft des Johannes steht das nahe Gericht Gottes. Im Bild: die Axt liegt an der Wurzel der Bäume, Bäume ohne Frucht werden umgehauen (Mt 3,10par.); die Spreu wird vom Weizen getrennt (Mt 3,12par.). Direkt: der kommende Zorn (Mt 3,7par.).
- Angesichts dieser Lage bleibt nur die Umkehr, Heilsgarantien gibt es nicht mehr (Mt 3,9par.). Im Sondergut Lk 3,10–14 ist die Umkehrforderung inhaltlich entfaltet.
- Die Taufe besiegelt diese Umkehr und ist als Mittel der Sündenvergebung zu verstehen (Mk 1,4: Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden).
- Das Gericht ist verbunden mit der Gestalt des Kommenden, im Sinne des Täufers ist hier am ehesten an Gott als Richter zu denken (nicht an den Messias oder Menschensohn).
Entscheidend für die Zuwendung Jesu zu den Sündern ist der oben beschriebene theologische Bezug. Es geht primär um die Botschaft von Gott und dessen Verhältnis zu den Menschen. Die Gemeinschaft Jesu mit Sündern ist Ausdruck seiner Gottesverkündigung.
Die Nähe Jesu zu den Sündern war charakteristisch für sein Auftreten: »Freund der Zöllner und Sünder« (Lk 7,34par.) – in der Zusammenstellung mit »Fresser und Weinsäufer« als Vorwurf markiert. In der Nähe Jesu zu Sündern lag Konfliktpotential. Tatsächlich haben Auseinandersetzungen um die Gemeinschaft Jesu mit Sündern keine geringe Rolle gespielt, denn:
- Gleichnisse rechtfertigen die Vergebungsbotschaft Jesu (Lk 15,1–32; Mt 20,1–16).
- Erzählungen inszenieren diese Botschaft samt ihrem Konfliktpotential (s.u. A. 1.3).
1.2 Zum alttestamentlich-jüdischen Hintergrund der Sündenvergebung
Im Alten Testament ist Sündenvergebung vor allem an kultische Vollzüge gebunden. Sünd- und Schuldopfer dienen der Entsündigung des Menschen. Das Ritual verlangt die Schlachtung eines Tieres aus dem Besitz des Sünders. Auf die Schlachtung des Tieres folgt als zentrale Handlung ein Blutritus. Dazu äußert sich grundsätzlich Lev 17,11:
»Denn das Leben des Fleisches ist im Blut. Und ich habe es euch gegeben auf den Altar, um zu sühnen für euer Leben. Denn das Blut erwirkt Sühne durch das Leben (oder: für das Leben; oder: als Leben)«.
Wie auch immer der Sinn dieses Ritus genau zu deuten ist, so ist der theologische Grundzug der Sühne eindeutig: Das Blut, dem Genuss des Menschen entzogen, wird von Gott zum Zweck der Entsündigung freigegeben. Gott schenkt eine Möglichkeit, von der Sünde und ihren Unheilsfolgen loszukommen. Das Wirken des Priesters, der das Sühneritual vollzieht (er erwirkt Sühne für die Sünde), wird unterschieden vom Wirken Gottes (»… es wird ihm vergeben werden«: 4,26). Das Ritual ist nur Voraussetzung für die von Gott geschenkte Vergebung. Kultische Sühne ist nicht Selbsterlösung des Menschen und nicht Besänftigung Gottes. Ob die Vergebung vom Priester ausdrücklich zugesprochen wurde, muss offenbleiben.
Die Bindung der Sündenvergebung an den Kult zeigt sich auch an Stellen, wo sie nicht an ein bestimmtes Ritual gebunden ist. Auch in solchen Fällen kann Vokabular verwendet sein, das kultisch konnotiert ist. So etwa bei der Berufungsvision des Jesaja (Jes 6,7) oder der Vision Sacharjas in Sach 3,4 wie auch für die Psalmen 51 und 6. Jeweils »wird die Sündenvergebung in kultische Bilder gekleidet« (H.-J. Klauck).
Dagegen ist Sündenvergebung in 2Sam 12,13 offensichtlich an das vorherige Sündenbekenntnis gebunden. David erkennt seine Schuld und spricht dies aus: »Ich habe gegen den Herrn gesündigt.« Daraufhin sagt der Prophet: »So hat auch der Herr deine Sünde hinweggetan.« Als Folge ergibt sich der Nachlass der Strafe (»du wirst nicht sterben«).
Sündenvergebung wird zum Kennzeichen der Endzeit, am markantesten in der prophetischen Literatur wohl in der Verheißung des Neuen Bundes in Jer 31,31–34. Diese Verheißung schließt mit Gottes Zusage: »Ich werde ihre Schuld vergeben und an ihre Sünde nicht mehr denken« (Jer 31,34; s.a. Micha 7,19; Ps 130,8; Ez 16,63 [ebenfalls im Kontext des Bundes]; Hos 14,5; Dan 9,24 u.a.m.). Immer ist Sündenvergebung alleiniges Werk Gottes.
An diesem Privileg Gottes hat auch die spätere Überlieferung nicht gerüttelt. Es lässt sich nicht nachweisen, dass endzeitlichen Heilsgestalten die Vollmacht zur Sündenvergebung zugeschrieben wurde – auch nicht aus dem Targum zu Jes 53 oder 4Q242 (Gebet des Nabonid, ein sehr fragmentarisch erhaltener Text aus den Qumran-Höhlen; Targume sind in der Datierung sehr umstrittene aramäische Übersetzungen biblischer Bücher). Wenn Johannes der Täufer eine Umkehrtaufe zur Vergebung der Sünden verkündet (Mk 1,4; Lk 3,3), ist ebenfalls daran gedacht, dass Gott Sünden vergibt, nicht der Täufer selbst.
1.3 Die Anstößigkeit der Nähe Jesu zu Sündern
Das Anstößige der Vergebungsbotschaft Jesu wird heute oft überspielt, weil man die »Sünder« meist im Zusammenhang sozialer Desintegration versteht: Randexistenzen der Gesellschaft (»Ausgegrenzte«), denen eigentlich nichts vorzuwerfen ist, jedenfalls nichts Gravierendes. Dies ist im Blick auf die »Zöllner« kaum treffend. Nimmt man das Wort »Sünder« einmal ernst, wird das Provokative der Botschaft Jesu vielleicht deutlicher und man versteht, dass Jesus für die Akzeptanz seiner Botschaft werben musste.
In der Überlieferung der Evangelien gibt es einzelne Geschichten, in denen die Anstößigkeit der Nähe Jesu zu Sündern inszeniert ist. In ihnen spiegelt sich zutreffend ein Grundzug des Wirkens Jesu.
Mk 2,15–17: Gastmahl mit Zöllnern und Sündern
Anlass zur Kritik gibt nicht die bloße Gemeinschaft mit den Sündern. Offensichtlich ist Jesus ja aus seinen Tischgenossen herausgehoben, er wird kritisiert, nicht die ganze versammelte Runde. Anstößig ist das Verhalten Jesu nur, wenn man berücksichtigt, dass er als Bote Gottes handelt und Gemeinschaft mit Sündern eingeht. Für die Kritiker steht auf dem Spiel, dass der Unterschied zwischen Sündern und Frommen verwischt wird, wenn man den Sündern Gottes Nähe zusag wie es Jesus tut. Für Jesus kommt es umgekehrt gerade darauf an, diese Unterschiede angesichts der Gottesherrschaft für unwesentlich zu erklären.
Lk 7,36–50: Jesus und die Sünderin
Die Ausgangsszene belegt die Nähe Jesu zu Sündern wie auch deren Anstößigkeit. Die Frau, als stadtbekannte Sünderin gekennzeichnet, sucht selbst die Begegnung mit Jesus; dass Jesus sich von einer Sünderin salben lässt, zeigt dagegen dem Pharisäer Simon, dass Jesus kein Gottesbote sein kann (V.39). Jesus reagiert darauf mit dem Gleichnis von zwei Schuldnern und lässt Simon selbst die Lehre daraus ziehen: Wem größere Schuld nachgelassen wurde, der wird seinen ehemaligen Gläubiger mehr lieben (VV.40–43). Dies wird auf die salbende Frau angewandt: »Ihr wurden ihre vielen Sünden erlassen, weil sie viel geliebt hat« (V.47).
Der Satz ist mehrdeutig, was das Verhältnis von Liebe und Sündennachlass betrifft. Werden die Sünden nachgelassen, weil die Frau Liebe erwiesen hat (Liebe als Realgrund der Vergebung: (»ihre vielen Sünden sind deshalb vergeben, weil sie viel geliebt hat«)? Oder zeigt sich im Erweis der Liebe, dass ihr die Sünden nachgelassen wurden (Liebe als Erkenntnisgrund der Vergebung: (»ihre vielen Sünden müssen vergeben sein, denn sie hat viel geliebt«)? Der Kontext erlaubt keine eindeutige Zuordnung.
- Für das zweite Verständnis spricht das kleine Gleichnis, das Jesus gerade erzählt hat. Und auch die Aussage in V.47 weist in diese Richtung: »Wem wenig vergeben wurde, der liebt wenig.«
- Dass Jesus dann aber ausdrücklich der Frau die Vergebung der Sünden zuspricht (V.48), scheint die Vergebung als Folge der erwiesenen Liebe zu kennzeichnen. Darauf weist jedenfalls die Fortsetzung. Wenn Jesus als derjenige wahrgenommen wird, der Sünden vergibt, dann ist der Satz »nachgelassen sind deine Sünden« nicht als Feststellung eines Tatbestandes zu verstehen, der aus dem Verhalten der Frau abgeleitet wäre. Es handelt sich vielmehr um eine Zusage, mit der Jesus auf jenes Verhalten reagiert. Bestätigt wird dieses Urteil durch den zweiten Zuspruch Jesu: »Dein Glaube hat dich gerettet.« Nicht ein vorgängiges Handeln Gottes – die Vergebung –, spielt hier eine Rolle; entscheidend ist, was die Frau getan hat.
Wahrscheinlich zeigen sich in der dargestellten Spannung die Spuren eines überlieferungsgeschichtlichen Wachstums. Vergebung als Reaktion auf erwiesene Liebe dürfte am ehesten der Hand des Lk zuzuschreiben sein. Er zeigt auch an anderen Stellen besonderes Interesse an dem Gedanken, dass Gott den umkehrenden Sünder annimmt (15,7.10; s.a. 5,32). Außerdem gibt es gerade in der Passage, die eindeutig die erwiesene Liebe als Realgrund der Vergebung ausdrückt (VV.48–50), »Anklänge an andere Perikopen« (W. Wiefel mit Verweis auf 5,20f., 5,21; 8,48). Sie dürften einen größeren erzählerischen Rahmen voraussetzen, zumal die Aufnahme des Glaubensmotivs in V.50 auf die vorliegende Szene nicht ganz passt. Ursprünglich war also die Geschichte vom Gedanken der vorgängigen Vergebung Gottes bestimmt.
Lk 19,1–10: Jesus und Zachäus
Trotz des Interesses, das der »Oberzöllner« an Jesus hat, ist für die Begegnung die Initiative Jesu entscheidend. Zachäus selbst bleibt von sich aus im Hintergrund, darin liegt ein Unterschied zur Geschichte von der Sünderin. Jesus sucht die Nähe zu Zachäus – und provoziert so den Protest der Zeugen, die das Problem genau benennen: ausgerechnet bei einem Sünder kehrt Jesus ein (V.7).
Die Anstößigkeit kommt genau so klar zur Sprache wie der Grund dieses Verhaltens: die Begegnung mit dem Sünder entspricht dem Willen Gottes (V.5); die Sendung des Menschensohnes richtet sich auf die Rettung der Sünder (V.10); Zachäus erfährt Rettung, weil er ein Sohn Abrahams ist (V.9).
Während die ersten beiden Aspekte eher lukanische Akzente darstellen, passt sich der Rekurs auf die Abrahamssohnschaft gut in das Wirken des historischen Jesus ein. Es ging ihm um die Sammlung Israels, und dabei wollte er die an den Rändern wieder ins Gottesvolk zurückholen. Diesem Impuls entspricht, dass die Zuwendung zu Zachäus in dessen Herkunft von Abraham begründet ist. Zachäus gehört, anders gesagt, zu Israel – für Jesus der entscheidende Grund der Zuwendung.
2. Die Sabbatauslegung Jesu
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2.1 Die Sabbat-Logien
In Mk 2,27 und Mk 3,4 begegnen zwei grundsätzliche Aussagen über den Sabbat, eingebettet in Erzählungen: das Ährenraufen am Sabbat (Mk 2,23–27) und die Heilung eines Mannes mit einer erstarrten Hand (Mk 3,1–6). Diese Einbindung dürfte sekundär sein, so dass man die Haltung Jesu ausgehend von den beiden Logien untersuchen kann.
Mk 2,23–28 macht einen uneinheitlichen Eindruck. Auf den Vorwurf werden drei unterschiedliche Antworten gegeben: das Davidsbeispiel (VV.25f.); neu eingeführt (»und er sagte zu ihnen«) das grundsätzliche Wort in V.27; als kaum einsichtige Folgerung das Wort über den Menschensohn (V.28). Da dieses christologisch orientiert ist, ist die Position Jesu zum Sabbat am ehesten, wenn auch nicht unbestritten, aus Mk 2,27 zu erheben.
In Mk 3,1–6 scheint eine Wundergeschichte sekundär mit dem Sabbat-Thema verbunden worden zu sein. Die geschilderte Situation setzt einen größeren Rahmen voraus: Die Gegner warten darauf, dass Jesus den Sabbat bricht (3,2). Die Geschichte wirkt konstruiert, wenn die Gegner Jesu dessen Fähigkeit zur Heilung einfach voraussetzen. So dürfte ein Jesuswort (3,4), das mit seiner Zuspitzung auf »ein Leben retten oder töten« auch nicht ganz zur vorausgesetzten Situation passt, sekundär mit einer Erzählung verbunden worden sein.
(1) Mk 2,27
Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht,
und nicht der Mensch um des Sabbat willen.
In diesem Spruch findet sich kein Bezug auf den Sinn eines bestimmten Gebotes, bezeugt ist der Anspruch, den ursprünglichen Sinn des Sabbats zu kennen. Dennoch dürfte das Alte Testament im Hintergrund stehen: In Ex 20,9f. ist der Sinn des Sabbats als eines allgemeinen Ruhetages, als eine Einrichtung zum Wohl der Menschen zu erkennen (s.a. Ex 23,12). Für Jesus ist dies der ursprüngliche Sinn, an dem sich die Sabbatpraxis bemessen muss – gegen eine Auslegung, die nach den Grenzen des Erlaubten am Sabbat fragt.
(2) Mk 3,4
Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses
zu tun? Ein Leben zu retten oder zu töten.
Was am Sabbat erlaubt ist, entscheidet sich im Verhältnis zum Mitmenschen. Ist er in Not geraten, so kann die ihm gebotene Hilfe nicht gegen das Sabbatgebot sein. Häufig wird die Diskussion um das am Sabbat Erlaubte als Streit um den zulässigen Sabbatbruch gewertet. Hintergrund sind entsprechende Debatten in der rabbinischen Überlieferung (etwa: »Lebensgefahr verdrängt den Sabbat«). Im Jesuswort selbst ist nicht davon die Rede, dass der Sabbat (erlaubterweise) gebrochen werde, wenn er heilt.
2.2 Erzählungen von Sabbatkonflikten
Neben den Streitszenen in Mk 2,23–3,6 (s.u. B.) sind Heilungsgeschichten aus dem lukanischen Sondergut und mt Erweiterungen in den Blick zu nehmen.
In Lk 13,10–17 und 14,1–6 erscheint als Argument für die Heilung am Sabbat das übliche Verhalten Tieren gegenüber an diesem Wochentag (zur Tränke führen, aus einem Brunnen ziehen). Die Argumentation geht nicht davon aus, dass der Sabbat durch jene Handlungen an den Tieren gebrochen werde, um dann mit einem Schluss vom Geringeren auf das Größere auch den Sabbatbruch in der Heilung durch Jesus zu rechtfertigen. Ausgangspunkt ist vielmehr die gängige Sabbatpraxis – also das, was am Sabbat als erlaubt gilt. Dann kann, so die Folgerung, auch die Heilung am Sabbat kein Sabbatbruch sein. In Mt 12,11f. ist dies mit dem Gedanken verbunden, dass der Mensch schwerer wiege als ein Schaf.
Nur in Mk 2,25f. wird ausdrücklich von der erlaubten Übertretung eines Gebots gesprochen und auf die Sabbatfrage angewandt (in der parallelen Erweiterung in Mt 12,5 zum Priesterdienst ausdrücklich auf die Übertretung des Sabbats bezogen). In diesen Fällen handelt es sich aber kaum um ursprüngliches Material.
Jesus versteht den Sabbat als Einrichtung, die zum Wohl des Menschen geschaffen wurde. Von diesem ursprünglichen Gotteswillen her bestimmt er das Maß des Erlaubten am Sabbat. Diese Blickrichtung, die nicht definiert, was am Sabbat noch getan werden darf, ist auf Widerspruch gestoßen. Der Streitpunkt ist aber nicht, dass sich Jesus über den Sabbat gestellt hätte. Der Konflikt dreht sich um die rechte Auslegung des Tora-Gebotes, den Sabbat zu heiligen.
B. Ausgangstext: Mk 2,1–3,6
Im MkEv findet sich recht früh eine Folge von Streitgesprächen, die den Widerspruch gegen das Auftreten Jesu sehr deutlich profilieren. Sie gibt keine historisch auswertbare Abfolge von Ereignissen wieder, sondern entspricht in erster Linie dem Gestaltungswillen des Markus, der damit ein erstes Signal seiner Kreuzestheologie setzt: Die Auseinandersetzungen führen dazu, dass ein Todesbeschluss gegen Jesus gefasst wird (3,6). Dieser Beschluss bezieht sich nicht nur auf die unmittelbar zuvor erzählte Geschichte (Heilung des Mannes mit der erstarrten Hand), sondern ist sicher als Reaktion auf alle Kontroversen zu verstehen. Ein weiteres Indiz für die Zusammengehörigkeit der ganzen Reihe ergibt sich aus der Parallelität zwischen der ersten und letzten Geschichte (2,1–12; 3,1–6). In beiden Fällen ist der Streit mit einer Wunderheilung verbunden.
Trotz dieser deutlich redaktionellen Gestaltung sind die Themen, um die gestritten wird, gut historisch in das Wirken Jesu einzuordnen. In jeweils zwei Fällen stoßen wir auf Konfliktfelder, die wir gerade betrachtet haben: die Nähe Jesu zu Sündern (2,1–12.13–17) und seine Stellung zum Sabbat (2,23–28; 3,1−6). Dazu kommt als eigene Frage diejenige nach dem Fasten (2,18–22). Was für die Komposition im Ganzen gilt, trifft auch für die einzelnen Abschnitte zu: Historisch Auswertbares ist mit späteren Entfaltungen verbunden.
1. Die Heilung eines Gelähmten (2,1–12)
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1.1 Zur Literarkritik
Die Geschichte weist einige Auffälligkeiten und Spannungen auf.
- Der Zuspruch der Sündenvergebung erfolgt etwas unmotiviert, da zuvor nichts von dem Sündersein des Gelähmten gesagt wurde und der Zusammenhang von Krankheit und Schuld nicht fraglos vorausgesetzt werden kann (er spielt auch sonst in den Wundergeschichten der synoptischen Evangelien keine Rolle).
- Die Schriftgelehrten stoßen sich in Gedanken an etwas, das Jesus in dieser Form gar nicht gesagt hatte. Sie erkennen den Anspruch Jesu, selbst Sünden zu vergeben. Dieser Anspruch wird eigentlich erst in V.10 erkennbar: Der Menschensohn hat Vollmacht, Sünden nachzulassen. Der Zuspruch in V.5 ist passivisch formuliert und weist damit eher darauf hin, dass Jesus dem Gelähmten die Vergebung durch Gott zusagt. Die Formulierung des Vorwurfs passt also nicht ganz und nimmt schon den später erhobenen Anspruch vorweg.
- Zwischen V.10 und V.11 zeigt sich eine literarische Naht, da die wörtliche Rede abbricht – genau an der Stelle, an der die Geschichte vom Streitgespräch zur Wunderhandlung zurückkehrt. Dass eine bestehende Geschichte wahrscheinlich erweitert wurde, wird durch eine weitere Beobachtung bestätigt:
- Die Reaktion der Zeugen berücksichtigt den Widerspruch der Schriftgelehrten nicht mehr: „alle gerieten außer sich und lobten Gott“ (V.12). Dies ist ein üblicher Abschluss in Wundergeschichten, der in der Formulierung nicht erkennen lässt, dass zuvor die Autorität Jesu in Frage stand. Das Problem besteht also in dem unkommentierten Bezug auf alle Anwesenden. Dass auch die Schriftgelehrten überzeugt wurden, wäre eigener Erwähnung wert gewesen, vor allem im Kontext der mk Streitgespräche. In diesem Rahmen wird ja ein sich stetig steigernder Konflikt erzählt, der auf den Todesbeschluss zuläuft. Dass die Gegner Jesu durch die Wunderheilung überzeugt wurden, scheint deshalb im mk Rahmen ausgeschlossen.
1.2 Zur Auslegung: christologische Verschiebung der Sündenvergebung
Wahrscheinlich handelt es sich bei Mk 2,1–12 also um eine uneinheitliche Erzählung. Eine Wundergeschichte wurde nachträglich um ein Streitgespräch um die Vollmacht zur Sündenvergebung erweitert. In der ursprünglichen Wundergeschichte schlägt sich die Vergebungsbotschaft Jesu nieder: Jesus spricht Sündern die Vergebung Gottes zu. Die Anstößigkeit dieses Tuns wird aber im zugefügten Streitgespräch in christologischen Kategorien gefasst. Die Schriftgelehrten erkennen einen Anspruch, der für die Person Jesu erhoben wird, und sehen diesen in Konkurrenz zu Israels Gottesbekenntnis. Im Hintergrund dürfte also eher die urchristliche Verkündigung stehen. Sie erhebt tatsächlich den Anspruch, im Namen Jesu Sündenvergebung zuzusprechen (s. zu dieser Geschichte auch die Ausführungen im Themenfeld »Die Wunder Jesu und die Wundererzählungen der Evangelien«, B. 1.).
2. Berufung des Levi und Gastmahl mit Zöllnern und Sündern (2,13–17)
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2.1 Zur Verbindung der beiden Szenen
Die Nähe Jesu zu Sündern wird nun auf eine grundsätzliche Ebene gehoben. Nach einer summarischen Lehrnotiz (V.13) wird knapp von der Berufung eines Zöllners namens Levi erzählt (V.14). Offensichtlich hat diese Szene nur die Funktion, auf das folgende Gastmahl mit Zöllnern und Sündern überzuleiten. Jedenfalls wird der berufene Levi danach im MkEv nicht mehr erwähnt. Die Berufung des Levi hat die Funktion, die Verbindung zu den »Zöllnern und Sündern« herzustellen. Jesus beruft einen aus diesem Kreis in die Nachfolge, und so kommt die Gemeinschaft mit Zöllnern und Sündern zustande.
2.2 Zur Auslegung der Gastmahlszene
In wessen Haus das Gastmahl stattfindet, bleibt undeutlich. Wahrscheinlich denkt Markus an das Haus des Levi, weil so am ehesten die unvermittelt auftretenden »vielen Zöllner und Sünder« in die Szene passen. Von einem Haus Jesu war bislang im MkEv ja nicht die Rede. Entscheidend ist aber nicht dieser Punkt, sondern allein die Tatsache, dass Jesus sich in dieser Gemeinschaft befindet.
Anlass zur Kritik gibt aber nicht die bloße Gemeinschaft mit den Sündern. Offensichtlich ist Jesus ja aus seinen Tischgenossen herausgehoben, er wird kritisiert, nicht die ganz versammelte Runde. Dass die Frage an die Jünger gerichtet ist, könnte spiegeln, dass die Christen selbst mit dem Vorwurf konfrontiert waren, eine zu große Nähe zu Sündern zu haben. Anstößig am Verhalten Jesu ist, dass er als Bote Gottes handelt und Gemeinschaft mit Sündern eingeht. Gott will, so seine Botschaft, sein ganzes Volk sammeln und keinen ausschließen. Diese von Gott ausgehende Integration demonstriert Jesus durch seine Nähe zu den Sündern. Die Kritiker sehen die Gefahr, dass der Unterschied zwischen Sündern und Frommen verwischt wird, wenn man den Sündern Gottes Nähe zusagt, wie es Jesus tut. Für Jesus kommt es umgekehrt gerade darauf an, diese Unterschiede angesichts der Gottesherrschaft für unwesentlich zu erklären.
Dem Bezug auf Jesus als Gottesbote korrespondiert in unserer Erzählung, dass Jesus von seiner Sendung spricht: »Ich bin (nicht) gekommen …«. In dieser Formulierung dürfte sich schon eine christologische Perspektive bekunden, der Rückblick auf die Sendung Jesu im Ganzen. So fällt auch das Stichwort der Basileia nicht, die Antwort Jesu bleibt letztlich auf seine Person konzentriert, nicht nur in der Sendungsaussage. Auch das Sprichwort vom Arzt, den die Kranken brauchen, bietet sich für ein solches Verständnis an: Jesus kann wahrgenommen werden als der Arzt, der zu den Kranken geht, sich also in die Nähe der Sünder begibt und mit ihnen Mahlgemeinschaft hält. Zugleich ist damit eine Rechtfertigung seines Tuns gegeben. Das Bild impliziert, dass durch das Wirken des Arztes die Kranken gesunden, also die Sünder nicht Sünder bleiben durch die Zuwendung, die Jesus ihnen in seinem Wirken zukommen lässt.
Manche Ausleger verstehen die Begriffe „gesund“ und „gerecht“ in der Antwort Jesu ironisierend: Es gehe um diejenigen, die sich für gesund bzw. gerecht halten. Dies ist im Rahmen der Erzählung kaum zu begründen. Es passt zum einen nicht zum gewählten Bildfeld: An vorgeblich Gesunde, die eigentlich schwer krank sind, kann kaum gedacht sein. Dies scheint doch modernes Wissen über Inkubationszeiten vorauszusetzen. Zum andern müsste aus einer nur angeblichen Gerechtigkeit doch gerade die bestärkte Bemühung Jesu um diese Sünder folgen, die nur vermeintlich gerecht sind. Die Antwort Jesu relativiert also nicht den Gegensatz von Sündern und Gerechten, sondern setzt ihn gerade unverkürzt voraus. Nur so kann sie als Rechtfertigung der Gemeinschaft mit den Sündern dienen. Andernfalls hätte Jesus ausdrücklich damit argumentieren müssen, alle seien Sünder vor Gott.
3. Die Frage nach dem Fasten (2,18–22)
Die Frage nach dem Fasten bezieht sich, anders als die Sabbat-Konflikte, nicht auf die Diskussion um die rechte Auslegung eines Tora-Gebotes. Im Mose-Gesetz gibt es nur einen festliegenden Fasttag pro Jahr, am Versöhnungstag (vgl. Num 29,7), so dass die Brisanz dieses Streitgesprächs geringer scheint als in den beiden folgenden Fällen. Die Frage, die an Jesus herangetragen wird, richtet sich auf das Verhalten seiner Jünger. Ihr Nichtfasten erscheint verglichen mit den Pharisäern und Johannes-Jüngern auffällig. Es bedarf der Rechtfertigung, die entsprechend dem Schema von Streitgesprächen nur Jesus liefern kann.
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3.1 Zur Literarkritik
Dass die Perikope nicht aus einem Guss ist, lässt sich an verschiedenen Beobachtungen festmachen. So ist die Antwort Jesu recht ausführlich und in den VV.21f. ohne unmittelbaren Bezug zum Thema des Fastens. Hier stehen sich »alt« und »neu« gegenüber, ohne dass der Wortlaut einen Zusammenhang mit der Fastenfrage erkennen ließe. Da es sich zudem formal um selbständig tradierbare Bildworte handelt, ergibt sich der Schluss: VV.21f. gehören nicht ursprünglich in den Kontext, in dem sie jetzt stehen.
In dem verbleibenden Abschnitt zeigt sich eine Spannung. Einerseits wird das Fasten abgelehnt („Können etwa die Hochzeitsgäste fasten?“). Andererseits wird die Ablehnung eingeschränkt durch den Bezug auf die Abwesenheit des Bräutigams. Dies wird dadurch vorbereitet, dass auch die Anwesenheit des Bräutigams eigens betont wird. Das Bild von den Hochzeitsgästen schließt aber die Anwesenheit des Bräutigams notwendig ein. Diese müsste eigentlich nicht erwähnt werden, d.h.: Die Formulierung „… während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange sie den Bräutigam bei sich haben, können sie nicht fasten“ soll nur überleiten zur Notiz von der Abwesenheit des Bräutigams. Sie gehört inhaltlich also zu dieser Notiz.
Die dargestellte Spannung ist durch überlieferungsgeschichtliches Wachstum zu erklären. Dabei zeigen sich die unterschiedlichen Situationen der Verkündigung Jesu und der urkirchlichen Überlieferung.
3.2 Zur Auslegung
Auf Jesus lässt sich (mithilfe des Differenz- und des Kohärenzkriteriums) der erste Teil der Überlieferung zurückführen. Die Zurückweisung des Fastens mithilfe der Hochzeits-Metapher ist gut in das Ganze der Verkündigung Jesu einzuordnen.
Jesus verkündet die Herrschaft Gottes als göttliches Vergebungsangebot, der Anbruch des Gottesreiches ist Grund zur Freude, die Heilsverheißungen beginnen sich zu verwirklichen. Die Ausübung einer bestimmten Fastenpraxis passt nicht zu dieser Zeitansage: Jesus ruft dazu auf, auf das Festmahl des Gottesreiches hin zu leben. Die Aussage in Mk 2,19a stimmt also gut zusammen mit dem Grundton der Botschaft Jesu. Sie kann zurückgreifen auf eine bestimmte Prägung der metaphorischen Rede von »Hochzeit« in der atl-jüdischen Tradition. Mit diesem Bild konnte das Verhältnis Jahwes zu Israel beschrieben werden (z.B. Jes 54,5; Jer 2,2; Hos 2,4; 3,1), auch im Blick auf die künftige Heilszeit (Jes 62,5). Der Jubel der Brautleute kann das künftige Heil illustrieren (Jer 33,11), sein Ausbleiben Bild für das Gericht sein (Jer 7,34; 16,9). Liest man das Bildwort von den Hochzeitsgästen und dem Bräutigam im Rahmen dieses Bildfeldes, dann schwingen weitere metaphorische Assoziationen mit. Dann ist nicht einfach von einer normalen Hochzeit die Rede, auf der natürlich nicht gefastet wird; dann ist im Bild von der Hochzeit zugleich ein Hinweis auf den Anbruch der Endzeit enthalten. In diesem Anbruch ist begründet, dass die Jünger nicht zu fasten brauchen.
Diese Ablehnung des Fastens steht nicht in Einklang mit den besonderen Anliegen der Urkirche. Die Perspektive der Tradenten ist durch die »Wegnahme des Bräutigams« geprägt. Auf die Urchristen geht deshalb der Zusatz, der das Fasten begründet, zurück (VV.19b–20). Sie rechtfertigen ihre Fastenpraxis angesichts eines fastenkritischen Wortes Jesu, indem sie das metaphorische Potential des Jesuswortes ausbauen. Eine Leerstelle im traditionellen Bildfeld wird neu besetzt: Der Bräutigam wird nun mit dem Messias identifiziert, so dass sich der Tod Jesu (»Wegnahme des Bräutigams«) als Einschnitt markieren lässt, der eine neue Praxis rechtfertigt – neu in erster Linie nicht gegenüber Pharisäern und Johannes-Jüngern, sondern gegenüber dem Wort Jesu.
Allerdings kann das Jesuswort in seiner erweiterten Form auch ein Fasten begründen wollen, das sich von der Praxis der genannten Gruppen absetzt. Darauf könnte die Anfügung der VV.21f. deuten. Sie folgen auf die Ankündigung eines Fastens »an jenem Tag«.
Diese Zeitbestimmung wird meist auf ein Fasten am Freitag bezogen, dem Wochentag, an dem Jesus starb. Auf diese neue Praxis dürfte sich im Rahmen des MkEv die Gegenüberstellung von alt und neu beziehen, die die gegenseitige Unverträglichkeit deutlich macht. Dies würde zwar einer äußerlich recht geringfügigen Differenz sehr starke Bedeutung beimessen, nämlich der Bestimmung des Wochentages, an dem gefastet wird. Dies muss aber nicht gegen diese Auslegung sprechen, denn zur Identitätssicherung können in Gruppenkonflikten auch marginale Differenzen eine nicht unerhebliche Rolle spielen.
Andererseits könnte sich angesichts der überlieferungsgeschichtlichen Analyse nahelegen, dass der mk Bezug von »alt und neu« auf das Fasten nicht der ursprüngliche ist. Dieser ist, wenn die Bildworte auf Jesus zurückgehen, entweder verloren oder vielleicht gerade in der Begründung des Nichtfastens zu suchen. Dann würde vielleicht das Fasten der Pharisäer und der Johannes-Jünger als neue Praxis kritisiert werden, die nicht zum Alten passt. Das ist zugegebenermaßen spekulativ, wäre aber angesichts der kaum ausgeprägten Fastenvorschriften in der jüdischen Tradition jener Zeit nicht undenkbar.
4. Das Ährenraufen am Sabbat (2,23–28)
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4.1 Zur Literarkritik
Hinweise auf ein überlieferungsgeschichtliches Wachstum ergeben sich aus drei Beobachtungen:
- Jesu Antwort wird zweimal eingeführt (V.25a: »und er sagt ihnen«; V.27: »und er sagte ihnen«), obwohl die Rede Jesu nicht unterbrochen ist.
- Die Antwort Jesu in VV.25f. hat keinen unmittelbaren Bezug zum Sabbat, sondern bringt ein biblisches Beispiel dafür an, dass ein Gebot aufgrund einer bestehenden Not übertreten werden kann, ohne schuldig zu werden (1Sam 21,1–7). Allerdings hat die Geschichte die Not der Jünger zuvor gar nicht besonders betont, so dass der Bezug auf die Tat Davids nicht nur wegen des fehlenden Sabbatbezugs auffällt (und nicht nur wegen der fälschlichen Zuordnung zur Zeit Abjathars).
- Der begründende Anschluss von V.28 an V.27 ist schwierig. Dass der Menschensohn Herr über den Sabbat sei, ergibt sich nicht aus der Aussage, der Sabbat sei um des Menschen willen geschaffen (zur Diskussion s.u. B. 4.2).
4.2 Zur Auslegung
Der erste Sabbatkonflikt entzündet sich am Ährenraufen der Jünger (2,23–28). Das Vergehen besteht nicht darin, dass die Jünger eine längere Strecke als die am Sabbat erlaubte Distanz zurückgelegt hätten. Dies ergibt sich nicht nur aus der Antwort Jesu, sondern auch aus der nicht weiter reflektierten Tatsache, dass die Kritiker sich am selben Ort wie die Jünger befinden.
Verboten ist auch nicht das Abreißen der Ähren für sich genommen bzw. das Essen von Körnern eines fremden Feldes. Dies war, sofern man nicht mit Erntegerät anrückte, erlaubt. In Dtn 23,26 heißt es: »Wenn du durch das Kornfeld eines anderen kommst, darfst du mit der Hand Ähren abreißen. Aber die Sichel darfst du auf dem Kornfeld eines anderen nicht schwingen.« Die Kritik der Pharisäer zielt demnach darauf, dass die Jünger Erntearbeit verrichten.
Nach der obigen Analyse ist der erste Teil von Jesu Antwort der Erzählung nachträglich zugewachsen. Sie wurde eingefügt, um die radikale Antwort Jesu (V.27) durch die Autorität eines biblischen Beispiels abzumildern. Dieses Beispiel liegt aber nicht auf derselben Linie wie der Satz Jesu vom Sinn des Sabbats. Denn es geht davon aus, dass der Bruch eines göttlichen Gebotes nicht schuldig macht, während V.27 im Rahmen unserer Geschichte besagt, dass der Sabbat durch das Ährenraufen gar nicht gebrochen wird. Vom Menschen und seinem Wohl her bestimmt sich, was am Sabbat erlaubt ist (s.o. A.2.1 zu dieser Ausrichtung der Sabbat-Auslegung Jesu).
Der Schluss-Satz in V.28 bringt einen neuen Gedanken ein. Eine Aussage, die allgemein vom Menschen handelte (V.27), wird nun in eine christologische Bestimmung überführt. Zwar muss die Rede vom Menschensohn als dem Herrn über den Sabbat nicht bedeuten, dass Jesus in Vollmacht sich über den Sabbat stellen oder ihn aufheben könne; es kann auch um die Vollmacht zur Sabbat-Auslegung gehen. Dies beseitigt aber nicht den schwierigen Zusammenhang zwischen V.27 und V.28. Dass sich der Satz über den Menschensohn als Folgerung (ὥστε) aus dem Sabbat-Logion V.27 ergebe, kann man nur behaupten, wenn der innere Zusammenhang durch umfangreiche Einträge deutlich gemacht wird.
So meint Klaus Berger: „Das überleitende ‚Deshalb …‘ am Anfang von V.28 ist daher so zu erklären: Wer so eine praktikable Regel kennt, erweist sich als kompetenter Sabbat-Exeget“. Vorausgesetzt ist: Die fachmännische und humane Auslegung des Sabbatgebotes sei der entscheidende Punkt bei der Wendung „Herr des Sabbats“. Dass sich der humane Charakter einer Auslegung so unbestritten mit „fachmännisch“ parallelisiert lässt, kann man bezweifeln.
Man muss also die Spannung zwischen beiden Aussagen ernst nehmen und V.28 als christologische Aussage fassen. Es ist für die christliche Gemeinde wesentlich, dass die rechte Sabbat-Auslegung von Jesus her begründet ist. Im Rahmen des MkEv ist auch daran zu denken, dass der Anspruch des Menschensohns, Herr über den Sabbat zu sein, noch grundlegender gehört werden soll und von Jesu Gegnern als blasphemischer Anspruch eingeordnet wird. Sollten sie diese Rede so verstehen, erklärt sich jedenfalls gut ihre Reaktion auf Jesu Haltung zum Sabbat nach dem nächsten Zusammenstoß: der Tötungsbeschluss (3,6).
5. Heilung einer gelähmten Hand am Sabbat (3,1–6)
Dass sich die Kontroverse mit den Pharisäern gesteigert hat, legt schon der Beginn der nächsten Sequenz (3,1–6) offen. Die Gegner Jesu formieren sich nicht erst angesichts einer Handlung Jesu oder seiner Jünger. Sie sind da, um einen möglichen, ja geradezu erwarteten Verstoß gegen das Sabbat-Gebot festzustellen.
Alles ist auf diese Frage konzentriert: Dass Jesus die Macht hat, eine gelähmte Hand wiederherzustellen, interessiert nicht weiter. Die Gegner setzen diese Fähigkeit auf Seiten Jesu einfach voraus, ohne zu fragen, was aus einer solchen Fähigkeit für die Bedeutung der Person Jesu folgen könnte. Dies ist im Rahmen der mk Sammlung insofern besonders bemerkenswert, als der Zusammenhang von Würde und Wundermacht ja bereits ausdrücklich besprochen wurde. Die Vollmacht des Menschensohns zur Sündenvergebung erweist sich nach 2,10f. in seiner Vollmacht zur Gelähmtenheilung. Die Gegner Jesu ignorieren diesen Zusammenhang und warten nur auf einen Anlass zur Anklage (V.2).
Jesus selbst durchschaut die Ausgangssituation und ergreift die Initiative, indem er den Mann mit der gelähmten Hand in die Mitte ruft (V.3). Er antwortet nicht wie in den bisherigen Erzählungen auf einen Vorwurf; vielmehr sorgt er selbst dafür, dass der strittige Punkt zur Sprache kommt.
Dass er die Gedanken seiner Gegner erkennt und ihre innere Haltung als Herzensverhärtung erfasst, unterstreicht seine Größe. Zugleich verbindet auch dieser Zug unsere Erzählung mit der ersten der Sammlung. Auch dort setzt Jesus an den unausgesprochenen Gedanken der Schriftgelehrten an, die er „in seinem Geist“ erkennt (2,8). Anders als dort zielt die Heilung im jetzigen Fall aber nicht darauf, die Vollmacht Jesu zu erweisen. Im eigentlichen Sinn „bewiesen“ wird durch die Heilung nichts. Dies passt auch zur Ausgangssituation, in der ja die Fähigkeit Jesu zur Heilung fraglos vorausgesetzt ist. Für die Gegner erweist die Heilung, dass Jesus sich nicht an das Sabbat-Gebot hält. Entsprechend fällt auch ihre Reaktion aus. An die Stelle eines Chorschlusses, der staunend das Geschehen preist, tritt der Todesbeschluss, sozusagen ein negativer Chorschluss. Insofern der Beschluss am Sabbat getroffen wird, könnte ein innerer Zusammenhang zur Frage Jesu in V.4 bestehen: Die Gegner Jesu »töten ein Leben« am Sabbat.
Jesus dagegen dokumentiert mit der Heilung seine Auslegung des Sabbat-Gebotes. Er fragt zwar danach, was am Sabbat zu tun erlaubt ist, will damit aber nicht die Grenze des noch Zulässigen definieren. Seine Frage stellt eine grundsätzliche Alternative ins Zentrum: Gutes oder Böses tun, ein Leben retten oder vernichten.
Das zweite Gegensatzpaar stellt eine Überspitzung dar. Angesichts der Situation geht es nicht um die Rettung eines Menschenlebens vor dem Tod. Dass dies am Sabbat erlaubt sei, haben zumindest die Pharisäer nicht abgestritten. Jesus verschiebt diese Grenze aber weiter nach vorne: dem Menschen Gutes tun kann auch dann nicht gegen das Sabbat-Gebot verstoßen, wenn die Bedingung der Lebensgefahr nicht gegeben ist. Weil der Sabbat für den Menschen geschaffen wurde (2,27), ist es erlaubt, an diesem Wochentag Gutes zu tun. Dies zu unterlassen wäre das Tun des Bösen.
Sicher ist auch diese Perikope geprägt von christologischen Zügen, die eine unmittelbare Rückführung in die Geschichte Jesu unwahrscheinlich machen. Dass die verhandelte Streitfrage und die von Jesus bezogene Position zur Sabbatheiligung aber grundsätzlich sehr gut ins Wirken des historischen Jesus passt, wird gewöhnlich auch nicht bestritten.
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