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Die johanneische Eschatologie

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Inhaltsverzeichnis

A. Thematische Perspektiven

B. Ausgangstext: Joh 5,19–30

A. Thematische Perspektiven

1. Zwei verschiedene eschatologische Linien

Inhaltsverzeichnis

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1.1 Traditionell-futurische Linie

Die traditionelle urchristliche Eschatologie war ausgerichtet auf das Wiederkommen Christi vom Himmel her, verbunden mit der endgültigen Rettung der Glaubenden in der Auferweckung.

Ein Beispiel dafür findet sich in 1Thess 4,16f. Der Blick bleibt beschränkt auf das Geschick der Glaubenden. In späteren Zeugnissen wird dagegen auch die apokalyptische Tradition der universalen Totenauferstehung bezeugt, am bekanntesten wohl in der großen Endgerichtsszene in Mt 25: Alle Völker werden vor dem Thron des Menschensohnes versammelt, dann erfolgt die Scheidung in Gerettete und Verdammte. Diese Szene schließt die Vorstellung einer allgemeinen Totenauferstehung ein, auch wenn nicht ausdrücklich von Auferweckung gesprochen wird.

Auf dieser Linie lässt sich Joh 14,2f. für sich betrachtet verstehen. Hier sind mehrere Elemente urchristlicher Parusie-Erwartung zu erkennen:

  • erneutes Kommen Christi;
  • dieses bringt die Erlösung in naher Zukunft;
  • der Blick bleibt auf die Glaubenden beschränkt.

An mehreren Stellen ist von der »Auferweckung am letzten Tag« die Rede. Viermal erscheint dieses Motiv in der Brotrede, jeweils am Satzende (6,39.40.44.54). Die Vorstellung vom »letzten Tag« gehört eindeutig in den Rahmen einer futurischen Eschatologie, die auf ein Ende der Geschichte ausblickt. Die Auferweckung erscheint in Übereinstimmung mit der apokalyptischen Tradition als ein unmittelbar endzeitliches Ereignis. Nicht im Rahmen der Auferweckung, sondern des Gerichts ist die Rede vom »letzten Tag« im Rückblick auf das Wirken Jesu in 12,48.

Futurische Eschatologie ist schließlich auch in einer Passage der Vollmachtsrede in Kap. 5 ausgedrückt. In 5,28f. wird auf ein künftiges eschatologisches Ereignis geblickt. Dabei geht um ein Geschehen, das »alle in den Gräbern« betrifft, im Hintergrund steht also die Vorstellung einer allgemeinen Totenauferstehung am Ende der Zeit, mit der folgenden Scheidung in Gerettete und Gerichtete – bemessen am Maßstab des Handelns. Man kann eine Linie zu Mt 25,31–46 ziehen.

Trotz solcher Motive und Aussagen einer traditionell futurischen Eschatologie ist eine markante Fehlanzeige zu vermelden: Im JohEv finden sich keine apokalyptischen Szenarien, die mit der Endzeitrede Mk 13parr. vergleichbar wären. Der Blick richtet sich nicht auf Katastrophen wie Hungersnöte, Erdbeben und Kriege oder die Entheiligung des Tempels; dass die kosmische Ordnung aus den Fugen gerät, Sonne und Mond nicht mehr scheinen, die Sterne vom Himmel fallen – all dies wird vom JohEv ebenso wenig geboten wie ein Sehen des Menschensohnes, der auf den Wolken zur Einsammlung der Auserwählten kommt.

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1.2 Präsentische Linie: Lebensgewinn und Gericht in der Gegenwart

Auffälligerweise finden sich im JohEv Worte, die den Gewinn des ewigen Lebens nicht für die Zukunft verheißen, sondern den Glaubenden für die Gegenwart zusagen. Das Kommen Christi zu Heil und Gericht wird nicht auf die noch ausstehende Wiederkunft bezogen, sondern mit dem »ersten« Kommen verbunden, dem Auftreten Jesu: Wer glaubt, hat das ewige Leben.

Den Glaubenden wird in 3,18 die Bewahrung vor dem Gericht zugesagt, während die Nichtglaubenden schon gerichtet sind. Das Gericht ist also kein Ereignis, das in Verbindung mit der Parusie Christi von einer mehr oder weniger nahen Zukunft noch zu erwarten wäre.

In 5,24 wird den Glaubenden positiv zugesagt, ewiges Leben zu haben (Präsens), aus dem Tod bereits in das Leben hinübergegangen zu sein (Perfekt). Auch diese Formulierung zielt durch den resultativen Aspekt des Perfekts auf die Gegenwart: Es geht um das, was den Glaubenden bleibend gegeben ist.

In 5,25 wird dieses Interesse an einer Aussage über die Gegenwart der Glaubenden besonders deutlich. Denn in diesem Vers wird eine ursprünglich zukünftige Aussage ins Präsens gezogen. Lässt man die Wendung »und ist jetzt da« aus, ergibt sich ein streng zukünftig ausgerichteter Spruch. Alle Verbformen stehen im Futur (»sie werden hören«; »sie werden leben«) oder drücken durch ihren Gehalt ein künftiges Geschehen aus (»die Stunde kommt«). Der Einschub »und ist jetzt da« signalisiert also, dass ein für die Zukunft erwartetes Ereignis, die Totenauferstehung, sich bereits jetzt ereignet. Der innere Zusammenhang mit dem vorherigen Vers (im Stichwort »hören« und der Lebensverheißung) bestätigt diese Sicht.

In Joh 3,36 teilen sich zwei Zeitstufen auf nach der unterschiedlichen Reaktion auf die Offenbarung in Jesus: Dem Glaubenden wird das Leben jetzt zugesagt, für den Nichtglaubenden wird die künftige Teilhabe am Leben ausgeschlossen, der Zorn Gottes bleibt auf ihm. Die Zukunft wird also ganz von der gegenwärtigen Entscheidung bestimmt.

Wie schon zu 5,24 fällt die individuelle Ausrichtung auf. Es ergeht ein Aufruf an Einzelne, sich für den Glauben zu entscheiden (ὁ πιστεύων … ἔχει ζωὴν αἰώνιον). Damit ist es unwahrscheinlich, dass der Spruch eine universal die ganze Menschheit betreffende Zukunft wie den »letzten Tag« im Blick hat, ein »Ende der Welt«. Die Zukunft, um die es hier geht, ist an der je eigenen Lebensspanne bemessen. Das futurische Element gilt hinsichtlich der Unheils- oder Heilserwartung des Einzelnen, insofern er in seiner jetzigen Situation noch diesseits des Todes steht. Die Entscheidung, ob man am Leben teilhat oder nicht, fällt aber schon in der Gegenwart.

Das Ich-bin-Wort in 11,25f. bestätigt dieses Verständnis. Die Zukunftsaussage wird ausdrücklich im Blick auf den individuellen Tod gefasst (»wird leben, auch wenn er stirbt«). Während hier vom Sterben die Rede ist, heißt es im zweite Teil des Spruches, der Glaubende sterbe gewiss nicht in Ewigkeit. Dies ist kein Widerspruch. Gemeint ist: Der Tod des Glaubenden bedeutet kein Sterben, sondern Leben. Der physische Tod ist Übergang ins Leben, denn der Glaubende hat bereits das Leben.

Diese Interpretation lässt sich auch von der Beschreibung des Glaubenden in V.26a her begründen. »Jeder, der lebt und an mich glaubt« addiert nicht zwei Bestimmungen, im Sinne »jeder von den Lebenden, der an mich glaubt«. In diesem Fall wäre der Bezug auf die Lebenden überflüssig. »Leben« bezeichnet hier mehr als »existieren«. Gemeint ist vielmehr, dass die Glaubenden in einem unverlierbaren Sinn leben. Und damit ist auch klar, dass ein solcher Glaubender nicht stirbt, denn er hat bereits das Leben, ist ein Lebender.

Einige Aussagen machen deutlich, dass der Lebensgewinn an die Erhöhung Jesu gebunden ist (3,13–15; 6,62; 12,32). Der Irdische, der gesandte Sohn ist in der joh »Horizontverschmelzung« immer schon als der Erhöhte gesehen.

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2. Integration beider Linien?

Die beiden dargestellten Linien provozieren die Frage, ob sie sich im Rahmen eines einheitlichen Konzepts verstehen lassen. Dies ist in der Johannesforschung umstritten.

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2.1 Pro einheitliches Konzept

Integriert man beide Linien in ein einheitliches Konzept, dann muss die Aussage, der Glaubende habe das Leben, den Sinn haben, dass ihm bei künftiger Totenauferstehung und Gericht dieses Leben nicht mehr genommen werden kann. Im künftigen Endgeschehen wirkt sich die jetzt getroffene Entscheidung für oder gegen das in Christus gegebene Leben aus. »Weil Jesus die Auferstehung und das Leben ist, werden die Gläubigen zum Leben auferweckt, auch wenn sie sterben bzw. gestorben sind, weil sie durch ihren Glauben nicht dem Tod anheimfallen können bzw. nicht in ihm bleiben können« (J. Rahner). Der bereits erfolgte Überstieg zum Leben kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Das jetzt im Glauben gewonnene Leben vollendet sich bei den künftigen eschatologischen Ereignissen am Ende der Zeit.  

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2.2 Grundsätzliche Bedenken

Gegen diese Lösung sind zwei Bedenken anzumelden.

  1. Die in ihr aufgezeigte Verbindung wird auf der Textebene nirgends ausgedrückt. Hätte der Evangelist seine Eschatologie von vornherein auf eine solche »Doppelstrategie« im Blick auf Gegenwart und Zukunft angelegt, wäre dann nicht damit zu rechnen, dass er die innere Verbindung offenlegt? Es stehen aber beide Linien nebeneinander, selbst an der Stelle, an der sie unmittelbar aufeinandertreffen: »Jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt hat ewiges Leben und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag« (6,40). Dass die Lebensgabe die künftige Auferweckung verbürgt, wird nicht gesagt, ebenso wenig, dass das Leben in Zukunft vollendet werde.
  2. Welchen Sinn hätte es, die Gabe des ewigen Lebens den Glaubenden in der Gegenwart zuzusagen, wenn dieses Leben durch den physischen Tod unterbrochen wird, um erst bei der künftigen Auferstehung wieder in Kraft gesetzt zu werden? Offensichtlich hätten die Glaubenden das Leben in diesem Fall nicht, es wäre ihnen nur als künftige Gabe fest und unverlierbar zugesagt. Die »bzw.-Aussagen« im Zitat in 2.1 zeigen die Schwierigkeit an: Zunächst ist so formuliert, wie es zur Rede vom »Haben des ewigen Lebens« im gegenwärtigen Sinn am besten passt; was eigentlich gemeint ist (die futurische Dimension), muss mit »bzw.« nachgetragen werden. Es fällt offensichtlich schwer, die gegenwärtige Gabe des Lebens ernst zu nehmen, wenn man noch auf eine künftige allgemeine Totenauferstehung vorausblickt, oder von der anderen Seite aus betrachtet: Nimmt man die gegenwärtige Gabe des Lebens ernst, wird es schwierig, eine künftige allgemeine Totenauferstehung zu integrieren.

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2.3 Literarkritisch begründete Zweifel

Das grundsätzliche Bedenken wird durch die Beobachtung unterstützt, dass die futurischen Aussagen zumeist in literarkritisch verdächtigen Passagen erscheinen.

  • Die Rede von der Auferweckung am letzten Tag findet sich mehrmals in Kap. 6, immer am Satzende und inhaltlich nicht vorbereitet. Die Brotrede kümmert sich außer in jenen angehängt wirkenden Notizen nicht um das Thema einer endzeitlichen Totenauferstehung. Da, wie bereits bemerkt, das Verhältnis dieser Ausrichtung auf den letzten Tag zur Zusage des im Glauben gegebenen Lebens nicht näher bestimmt wird, entsteht eher der Eindruck einer Spannung als einer inneren Beziehung (s.a. 6,50–51b: Wer vom Lebensbrot isst, stirbt nicht, sondern lebt in Ewigkeit).
  • Die Verse 5,28f. unterbrechen den Zusammenhang, der zwischen 5,27 und 5,30 besteht. Zunächst heißt es, der Vater habe dem Sohn die Gerichtsvollmacht übergeben (5,27) – und dies wird ausgeführt in dem Gedanken (nun in Ich-Form), Jesus könne nichts von sich aus tun, sondern er richte, wie er es höre (5,30). Der Blick auf das künftige Gericht des Menschensohns bleibt dagegen im Kontext isoliert.

    Die Differenzen lassen sich nicht dadurch umgehen, dass man die diskutierten Verse 5,28f. als explizite Bezugnahme auf 5,24f. deutet, sich beide Konzepte gegenseitig interpretierten und der jetzt fallenden Glaubensentscheidung endzeitliches Gewicht zugesprochen werden solle. Wenn es wesentlich um die gegenwärtige Vollmacht des Menschensohns geht – daran kann in Joh 5 kaum ein Zweifel sein –, wäre eher die umgekehrte Abfolge der beiden Passagen zu erwarten, wenn denn der Text von vornherein auf diesen Gedanken angelegt gewesen sein sollte.

Keine literarkritisch diskutablen Passagen bieten die Aussage von der künftigen Auferstehung, wenn im Kontext eine Deutung auf präsentische Eschatologie hin erfolgt (11,24; 14,2f.; s.u. A. 2.4).

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2.4 Die Tendenz des Evangelisten

Der Evangelist ist eindeutig an der präsentischen Eschatologie interessiert. Futurisch orientierte Aussagen werden uminterpretiert auf gegenwärtiges Geschehen hin. Dies gilt nicht nur für das bereits besprochene Beispiel 5,25 (s.o. A. 1.2). Auch für die Ankündigung der Parusie in 14,2f. lässt sich eine solche Uminterpretation wahrscheinlich machen. Die folgende Rede nimmt wesentliche Stichworte aus jener Parusieankündigung auf und deutet sie neu auf die Gegenwart des Auferstandenen im Geist.

  • Das Weggehen (πορεύομαι, ὑπάγω) wird als Gehen zum Vater ausgeführt (ab 14,4, ausdrücklich in 14,12) und es wird eine Situation geschildert, in der die Jünger im Bittgebet mit Jesus und dem Vater verbunden sind (14,13f.). So erfolgt durch den Weggang keine Trennung, die durch die Wiederkunft am Ende der Zeit wieder aufzuheben wäre.
  • Jesus verheißt in 14,3 sein Kommen nach seinem Weggang (πάλιν ἔρχομαι), und er greift dies in 14,18 wieder auf: »Ich lasse euch nicht als Waisen zurück, ich komme zu euch (ἔρχομαι πρὸς ὑμᾶς).« Damit wird das Kommen nicht auf ein endzeitliches Ereignis in der Zukunft bezogen, da deutlich die weitere Existenz der Jünger in der Welt vorausgesetzt ist. Man muss wohl so deuten: Im Geist, dem »anderen Beistand«, kommt Jesus zu den Seinen, die weiterhin in der Welt sind.
  • Hatte es zunächst geheißen, Jesus gehe, um den Jüngern einen Ort zu bereiten, und zwar im Blick auf die vielen Wohnungen im Haus des Vaters (μοναὶ πολλαί), so liest man in 14,23 umgekehrt: »Wenn einer mich liebt, wird er mein Wort bewahren, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen« (μονὴν παρ᾿ αὐτῶ ποιησόμεθα). In dieser Besonderheit dürfte sich die Vorstellung vom gegenseitigen Ineinandersein von Vater, Sohn und Glaubenden auswirken (14,10f.20). Deshalb sind die beiden Richtungen in der Wohnungnahme auch kein Widerspruch.

Die Antwort Jesu an Martha in 11,25f. setzt einen deutlichen Gegenakzent zur »traditionellen« Aussage in 11,24 (»ich weiß, dass er [Lazarus] auferstehen wird bei der Auferstehung am letzten Tag«), nicht nur durch die christologische Zuspitzung (»ich bin die Auferstehung und das Leben«), sondern auch durch die zeitliche Struktur. Der Tod kann das den Glaubenden gegebene Leben nicht beeinträchtigen. Eine Ausrichtung auf die Auferstehung am letzten Tag wird sinnlos.

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2.5 Fazit: Eschatologische Relecture

Die Eschatologie des JohEv ist also nicht aus einem Guss. Wahrscheinlich wurde das JohEv bei der Relecture im Schülerkreis auch in der Eschatologie bearbeitet. Dies führte zu einem neuen Akzent: Der Grundzug, dass die Entscheidung über Heil oder Gericht in Annahme oder Ablehnung des gesandten Sohnes fällt, wird nun auf Parusie und allgemeine Totenauferweckung bezogen.

Aus der Überarbeitung eines gegebenen Konzepts erklärt sich:

  • die Unstimmigkeit zwischen Gabe des Lebens in der Gegenwart und In-Kraft-Setzung in der Zukunft;
  • die Schluss-Stellung von Aussagen, die die futurische Dimension einbringen;
  • dass der innere Zusammenhang beider Linien im Text nicht geklärt wird.

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3. Der Paraklet

Wenn sich nach der Überzeugung des Evangelisten Heil und Gericht entscheidet in der Stellung zu Jesus als dem Gesandten Gottes, dessen Kommen als die Parusie des Menschensohnes zu verstehen ist, was ist dann über die Zeit nach der Erhöhung Jesu zu sagen? In ihr kann man dem Irdischen ja nicht mehr begegnen. Darauf dürfte das Konzept des »Parakleten« antworten. Die Belege begegnen in den Abschiedsreden (Kapp.14–17), in denen die Situation der Glaubenden nach dem Weggang Jesu bedacht wird.

Das griechische Wort παράκλητος, das unübersetzt mit »Paraklet« wiedergegeben wird, bedeutet wörtlich »der Herbeigerufene« und bezeichnet ursprünglich vor allem den Beistand vor Gericht, aber auch in anderen Zusammenhängen den Fürsprecher, sekundär dann auch einen, der ermutigt, tröstet, mahnt, belehrt.

Der Paraklet – »Geist der Wahrheit« (14,17; 15,26; 16,13) oder »heiliger Geist« (14,26) – geht aus vom Vater im Namen Jesu oder auf dessen Bitte hin (14,12.16) oder wird von Jesus zu seinen Jüngern gesandt (15,26; 16,7), wenn nicht allein von seinem Kommen die Rede ist (16,13).  

  • Das Kommen des Geistes zielt auf die Kontinuität der Gemeinschaft Jesu mit den Jüngern, wodurch die in und mit Jesus geschehene Offenbarung präsent gehalten wird (14,16f.26). So wird durch die Gemeinde, bei der der Geist ist, die Welt bleibend mit der Jesus-Offenbarung konfrontiert. Glaube und Unglaube, Heil und Gericht können sich in jeder Gegenwart ereignen.
  • In den Paraklet-Sprüchen in Kapp. 15f. wird stärker der Bezug zur Welt und auf die Zukunft hin akzentuiert (wahrscheinlich sind Kapp. 15–17 später hinzugefügt). Dennoch bleibt auch der Bezug zur Gemeinde: Das Geistwirken wird als Einführen in alle Wahrheit beschrieben, anders aber als in 14,26 in futurischer Ausrichtung (16,13).
  • Die Bedeutung des Wortes »Paraklet« in den Abschiedsreden kann zusammenfassend wohl am besten mit »Beistand« bestimmt werden.

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B. Ausgangstext: Joh 5,19–30

1. Kontext

In der überlieferten Form des JohEv ist 5,19–46 die erste große Rede, es gibt jedoch begründete Zweifel an der Ursprünglichkeit dieser Abfolge. Möglicherweise sind die Kapitel 5 und 6 in der Reihenfolge vertauscht, so dass die Brotrede in der Synagoge von Kapharnaum der Rede über die Vollmacht in 5,19–46 eigentlich vorausgeht.

Der Sachzusammenhang dieser Rede ist jedoch eindeutig: Sie ergeht im Rahmen der Auseinandersetzung, die durch die Heilung des Gelähmten am Sabbat hervorgerufen wird (5,1–9). Gegen Jesus wird nicht nur dieser Gesetzesverstoß als Auflösung des Sabbats vorgebracht, sondern auch das von ihm beanspruchte Verhältnis zu Gott als seinem Vater; auf diese Weise habe er sich Gott gleich gemacht (5,18bc). Aus diesem Vorwurf erwächst der Versuch, Jesus zu töten (5,18a).

Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die narrative Christologie des JohEv, dass auf die Notiz von diesem Versuch unmittelbar die Rede Jesu über seine Vollmacht folgt: Offensichtlich sind die Gegner in ihrem Bemühen ohnmächtig, Jesus kann trotz der Tötungsversuche ungehindert zu seinen Gegnern sprechen. Schon hier deutet sich an, dass diese keine wirkliche Macht über Jesus gewinnen. Wenn sie ihn schließlich ergreifen können, dann deshalb, weil die vom Vater festgesetzte Stunde gekommen ist (s. 7,30; 8,20; s.a. 8,59; 10,39).  

Die Rede endet nicht in V.30, wohl aber die unmittelbar eschatologisch relevanten Aussagen. Im Anschluss geht es vor allem darum, dass die Selbstaussagen Jesu über seine Vollmacht in VV.19–30 durch von außen kommende Zeugnisse gedeckt sind für Jesus (Johannes, Werke, die Schriften, der Vater).

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2. Aufbau

Der Abschnitt 5,19–30 kann als erster Teil der Vollmachtsrede bestimmt werden. Er wird durch eine Klammer zwischen V.19 und V.30 zusammengehalten. In beiden Versen wird der Gedanke der Einheit von Vater und Sohn ausgedrückt, und zwar auf dieselbe Weise: Der Sohn kann nichts »von sich aus« tun. Es kommt aber nicht zu einer einfachen Wiederholung des Eingangsverses, die Unterschiede können ein Licht auf die Zielrichtung der Rede Jesu werfen. Dazu mehr bei der Auslegung von V.30.

Innerhalb dieses Rahmens zeigt sich eine ansatzweise parallele Struktur, die gebildet wird durch zwei Amen-Worte und zwei »Vergleiche« (ὥσπερ γὰρ ὁ πατήρ).

VV.19f.:        Amen-Wort: Die Wirkeinheit von Vater und Sohn
VV.21–23:            Übergabe der Vollmacht zu Lebensvermittlung und Gericht an den Sohn                                             (eingeleitet mit »wie der Vater …« – ὥσπερ γὰρ ὁ πατήρ)
VV.24f.:        Amen-Wort: Glaube als Lebensgewinn in der Gegenwart
VV.26f.:                Übergabe der Vollmacht zu Lebensvermittlung und Gericht an den Sohn                                             (eingeleitet mit »wie der Vater …« – ὥσπερ γὰρ ὁ πατήρ)
[VV.28f.:      Das künftige Gericht]
V.30:           Quintessenz: Jesus als gerechter Richter in völliger Willensübereinstimmung mit Gott

Die Parallelität ist nicht perfekt, aus drei Gründen.

  1. In VV.24f. finden sich zwei Amen-Worte hintereinander, dies hat keine Entsprechung in VV.19f.
  2. Die Klammer zwischen V.19 und V.30 lässt sich in die parallele Struktur nicht einpassen: Der Schluss-Satz hat strukturell kein Gegenstück, das eine Klammer um einen parallel gebauten Innenteil legen könnte: V.19 ist ja bereits das erste Amen-Wort.
  3. Formal sind die Entsprechungen zwischen den als parallel gekennzeichneten Abschnitten begrenzt. VV.19f. bietet eine mit γάρ angeschlossene Begründung des Amen-Wortes – ohne Entsprechung in V.24f. In VV.21–23 findet sich am Schluss ein Finalsatz (V.23), der in der späteren Passage ebenfalls kein Pendant hat.

Dennoch sind die genannten Markierungen (ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν/ὥσπερ γὰρ ὁ πατήρ) deutlich genug gesetzt, um die Einschnitte zu kennzeichnen. In zwei Durchgängen wird die Vollmacht Jesu entfaltet als Vollmacht zu Lebensvermittlung und Gericht.

Dass darauf der Ton liegt, zeigt die inhaltliche Aufnahme von VV.21–23 in VV.26f. Trotzdem wiederholt sich der erste Abschnitt nicht einfach im zweiten. Denn in den VV.24f. tritt ein neues Element hinzu: der Glaube als Weg zum ewigen Leben. Ging es zuvor nur darum, dass der Sohn in Einheit mit dem Vater wirkt und ihm die Vollmacht zu Lebensvermittlung und Gericht übergeben wurde, so blickt der zweite Durchgang auch auf die Bedingung des Lebensgewinns auf der Seite des Menschen. Da aber der Glaube wesentlich zu tun hat mit der Anerkennung der Vollmacht Jesu, wird auch die Vollmachtsübertragung in den VV.26f. noch einmal ausdrücklich formuliert: Wer das Wort Jesu bzw. die Stimme des Sohnes Gottes hört (s. V.24b.25d), hört den, der in sich Leben hat (V.26) und das Gericht durchführt (V.27).

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3. Auslegung

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VV.19f.

19 Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich selbst tun, außer was er den Vater tun sieht; denn was der tut, das tut ebenso auch der Sohn. 20 Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er selbst tut; und er wird ihm größere Werke als diese zeigen, damit ihr euch wundert.

Zunächst wird – gegen die Bestreitung der Vollmacht Jesu – die Einheit von Vater und Sohn betont. Wenn Jesus am Sabbat geheilt hat, war dies kein Verstoß gegen Gottes Willen. Jesus wird nur dann recht verstanden, wenn er aus der Einheit mit Gott verstanden wird. Dies wird im Folgenden nicht begründet, sondern entfaltet. Wie verhält sich diese Entfaltung zu dem Vorwurf, Jesus habe sich durch die behauptete Sohn-Beziehung mit Gott gleichgemacht? Dass Jesus Gott seinen eigenen Vater nennt, ist, wie die Rede Jesu zeigen soll, darin begründet, dass er eben der Sohn ist. Jesus beansprucht hier nichts »von sich aus«.

Trifft die Gleichheit mit Gott in der Sicht des Joh sachlich zu oder soll dies als Missverständnis der Gegner Jesu erscheinen, die Jesus einen höheren Anspruch zuschreiben, als er selbst erhebt? Zwar kann man auf Formulierungen verweisen, in denen Jesus sich als Sohn dem Vater unterordnet (z.B. 14,28); und es lässt sich auch ins Spiel bringen, dass »Gott« in dem zitierten Vorwurf mit dem bestimmten Artikel versehen ist (τῷ θεῷ): Ein Rückbezug auf die Göttlichkeit des Logos in 1,1 (θεὸς ἦν) gelingt also nicht glatt. Dennoch wird die innere Einheit zwischen Vater und Sohn im Folgenden derart stark profiliert, dass man den Eindruck gewinnt, die Gegner Jesu hätten nur insofern Unrecht, als sie Jesus vorwerfen sich selbst Gott gleichgemacht zu haben. Die Gegner Jesu erkennen einen Anspruch auf göttliche Vollmacht, den sie für angemaßt halten, der Evangelist aber für gedeckt von Gott.

Zu den Aussagen über die Wirkeinheit von Vater und Sohn s. »Die johanneische Christologie«, A. 2.2. – Die »größeren Werken als diese« kann man zunächst auf die Wundertaten Jesu deuten, da in 7,21 mit dem Begriff ἔργον auf die Heilung des Gelähmten angespielt wird. Noch größere Zeichen als dieses werden folgen, vor allem die Heilung des Blindgeborenen und die Auferweckung des Lazarus. Man kann aber wohl noch einen hintergründigen Sinn erkennen, der sich aus dem unmittelbaren Kontext ergibt: die Vermittlung des Lebens und die Durchführung des Gerichts. Es ist ja auch der Sinn der Zeichen, dass sie Jesus als den erweisen, der das Leben ist, und in der Entscheidung zwischen Glaube und Unglaube Heil und Gericht eröffnen. Diese Dimension dürfte eingeschlossen sein, wenn von den »größeren Werken« die Rede ist.

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VV.21–23 

21 Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will. 22 Denn der Vater richtet auch niemand, sondern das ganze Gericht hat er dem Sohn gegeben, 23 damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat.  

In dieser Passage wird die Einheit von Vater und Sohn durch die Übertragung der Vollmacht zu Lebensgabe und Gericht an den Sohn entfaltet. Dabei steht, dem Sinn der Sendung Jesu entsprechend, das Leben an erster Stelle. Das Gericht wird außerdem gar nicht in seinem negativen Aspekt angeführt, also dass es Ausschluss vom Heil bedeute. Im Vordergrund steht vielmehr, die Übertragung der Vollmacht, die zur Ehrung des Sohnes führen soll. Damit wird die Ausgangssituation aufgenommen, der an Jesus gerichtete Vorwurf, sich Gott gleich gemacht zu haben. Gesagt wird nun, dass die Einheit zwischen Vater und Sohn so eng ist, dass die Ehrung Gottes (des Vaters) ohne die des Sohnes gar nicht möglich ist. Wer in der von Jesus beanspruchten Nähe zu Gott eine Beleidigung der Majestät und Einzigkeit Gottes erkennt, verkennt also diese in Gott selbst gründende Einheit mit dem Sohn.

Mit dem Interesse an der Darstellung dieser Einheit geht eine zeitliche Verschiebung einher, die für die Eschatologie des Joh kennzeichnend ist: der Zug zur Gegenwart, der dann in den VV.24f. noch deutlicher zum Tragen kommt. Doch bereits in V.21 ist das Lebendigmachen präsentisch formuliert und so wird vorbereitet, was gleich noch etwas näher ausgeführt wird. Dass diese Bedeutung des Wirkens Jesu im Blick auf das Lebendigmachen verbunden wird mit der Bestimmung »die er will« (οὓς θέλει ζῳοποεῖ), drückt nicht Willkür aus, sondern akzentuiert die Autorität und Souveränität des Sohnes. Dass der Mensch in seiner Entscheidung zu Glaube oder Unglaube nicht frei sei, will Joh sicher nicht sagen (s.a. die Überlegungen in der Auslegung von Joh 3,18–21 in »Die johanneische Christologie«, B. 3.).

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VV.24f.

24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, (der) hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben übergegangen. 25 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, dass die Stunde kommt und jetzt da ist, wo die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und die sie gehört haben, werden leben.

Zur inhaltlichen Besonderheit dieser Verse und ihre Bedeutung für die joh Eschatologie s.o. A. 1.2. Hier sollen einige Bemerkungen zum inneren Zusammenhang genügen. Wenn in V.25 von den Toten die Rede ist, die die Stimme des Gottessohnes hören, so ist damit nicht (wie in V.28) auf ein Geschehen am Ende der Tage angespielt. Die allgemeine Totenauferstehung ist hier nicht im Blick. Wenn die Lebensvermittlung allen zugesprochen wird, die die Stimme des Gottessohnes hören, ist die Gerichtsvorstellung hier ausgeblendet. Die Toten sind also nicht die in den Gräbern. Vielmehr wird metaphorisch von Toten gesprochen – die Menschen außerhalb der Offenbarung des Sohnes. Dann ist das Hören der Stimme des Gottessohnes vom vorherigen Vers her zu deuten. Es ist das Hören, das mit dem Glauben verbunden ist. Wer auf Jesus hört, auf sein Wort (ὁ τὸν λόγον μου ἀκούων) und glaubt (καὶ πιστεύων), dem wird ewiges Leben und Bewahrung vor dem Gericht zugesprochen.

Dass der Glaube hier nicht direkt christologisch bestimmt wird, sondern sich auf Gott bezieht, harmoniert mit dieser Auslegung. Denn Gott wird hier durch die Sendung Jesu bestimmt. Und an den Gott, der Jesus sendet, kann man nicht glauben, ohne dass man dem Gesandten glaubt. Die theo-logische Formulierung erklärt sich aus dem Kontext. Gerade wurde vom sendenden Vater gesprochen (V.23); außerdem kann auf diese Weise noch einmal die Einheit von Vater und Sohn akzentuiert werden: Die Lebensvermittlung durch den Sohn wird dem erschlossen, der an den Vater glaubt – und dies ist nicht möglich, ohne ihn als denjenigen zu glauben, der den Sohn gesandt hat.

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VV.26f.

26 Denn wie der Vater Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben zu haben in sich selbst; 27 und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

Zum zweiten Mal wird die Übergabe der Vollmacht zu Lebensvermittlung und Gericht an den Sohn angeführt, und wieder erscheint das Gericht erst an zweiter Stelle. Nach VV.24f. ist klar, dass die Vollmacht des Sohnes, Leben zu geben, an den Glauben gebunden ist. Die Übertragung der Vollmacht zum Gericht ist in V.27 nicht auf ein künftiges Richterhandeln des Menschensohns ausgerichtet. Eine solche Ausrichtung könnte sich erst von den beiden folgenden Sätzen her ergeben, die aber literarkritisch umstritten sind und keinen terminologischen Bezug zu V.27 aufweisen (s.o. A. 2.3). Liest man VV.26f., wie es sich von der Struktur her nahelegt, parallel zu VV.21f. (s.o. B. 2.), geht es um die Vollmacht, die dem Menschensohn in der Zeit seines Wirkens zukommt. Dies harmoniert auch mit V.26, wo es ja auch darum geht, dass es dem Sohn in der Gegenwart gegeben ist, Leben in sich zu haben (und so den Glaubenden vermitteln zu können).

Der Wechsel zum Menschensohn-Titel kann kaum als Indiz für eine neue zeitliche Ausrichtung gelten, weil dieser Titel im Zusammenhang mit dem Gericht in der urchristlichen Tradition auf das künftige Erscheinen des Menschensohnes ausgerichtet sei. Joh kann mit traditionellen Gehalten souverän umgehen. Dass er den irdischen Jesus so deutlich mit Zügen des Erhöhten ausstattet, lässt es als schwierig erscheinen, die mit der Erhöhung des Menschensohnes verbundene Ausrichtung auf die Zukunft in V.27 aufgenommen zu sehen. Die verschiedenen Zeitebenen sind vereint und konzentriert auf die Gegenwart der Entscheidung zwischen Glauben und Unglauben. In ihr fällt deshalb die Entscheidung zwischen Heil und Unheil, Leben und Gericht, weil es um die Stellung zu dem geht, dem die Vollmacht zu Leben und Gericht zukommt – in der Situation der Glaubensentscheidung, nicht erst bei einem künftigen endzeitlichen Ereignis.

Auch grammatikalisch weist nichts auf die Zukunft. Die Vollmacht κρίσιν ποιεῖν steht parallel zum ζωὴν ἔχειν ἐν ἑαυτῷ (beides ist vom Vater gegeben: ἔδωκεν). Jesus wird nicht erst in die Menschensohn-Würde eingesetzt, er ist der Menschensohn.

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VV.28f.

28 Wundert euch darüber nicht, denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören 29 und hervorkommen werden: die das Gute getan haben zur Auferstehung des Lebens, die aber das Böse verübt haben zur Auferstehung des Gerichts.

Zur Diskussion um die Ursprünglichkeit dieser Passage s.o. A. 2.3. Wurde der Ton zuvor eindeutig auf die Lebensvermittlung in der Gegenwart gelegt, wird in diesen Versen ein künftiges Geschehen besprochen, ohne es (wie in V.25) in die Gegenwart zu ziehen. Wenn das Tun des Guten (τὰ ἀγαθὰ ποιήσαντες) oder des Bösen (τὰ φαῦλα πράξαντες) als Kriterium des Urteils angegeben ist, scheint der Glaube die in den vorherigen Versen angegebene Bedeutung verloren zu haben. Man kann zwar auf die Parallele in 3,20 und auf den dort gegebenen metaphorischen Sinn des Tuns des Bösen (ὁ φαῦλα πράσσων) als »Unglaube« verweisen; zum Tun des Guten gilt dies aber nicht. Hier scheint die Gegengröße »Tun der Wahrheit« johanneischer formuliert zu sein als 5,29. In die Gedankenführung des Abschnitts fügt sich die Passage nicht gut ein (der Anschluss von V.30 an V.27 ist besser als der an V.29); sie ist auch die einzige Stelle im JohEv, an der von einer allgemeinen Totenauferstehung die Rede ist. Es ist also damit zu rechnen, dass bei der Relecture des Evangeliums dieser kräftige Akzent auf eine futurische Eschatologie eingefügt wurde.

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V.30

Ich kann nichts von mir selbst tun; so wie ich höre, richte ich, und mein Gericht ist gerecht, denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

Wie in B.2. besprochen, bildet dieser Vers mit V.19 eine Klammer um den besprochenen Abschnitt in der Ausrichtung auf die Einheit zwischen Vater und Sohn. Dabei führt der Abschlussvers den Gedanken in dreifacher Hinsicht weiter:

  1. Nun wird von der Willensübereinstimmung zwischen dem sendenden Vater und dem gesandten Sohn gesprochen. In diesem Sinn ist also die Einheit des Wirkens zu verstehen (V.19 mit dem Leitwort ποιεῖν, s.a. 5,17: ἐργάζεσθαι). In der Identität des Tuns zeigt sich die völlige innere Übereinstimmung zwischen Vater und Sohn. Wichtiger noch sind die beiden anderen Änderungen.
  2. Jesus spricht nun von sich in der ersten Person. Nachdem seine Einheit mit Gott als diejenige von Sohn und Vater geklärt ist, kann er ohne Titel von sich sprechen und Gott als den bezeichnen, der ihn gesandt hat. In der weiteren Rede dominiert nun die Formulierung in der 1. Person, die zuvor nur in V.24 zu finden war (»mein Wort«, »wer an mich glaubt«). Alles, was über den Sohn gesagt wurde, trifft auf Jesus zu. Das ist zwar an dieser Stelle nicht neu. Es dürfte aber kein Zufall sein, dass die Gottesbeziehung Jesu zunächst mit jenen Begriffen verhandelt wird, in denen die exklusive Nähe unmittelbar ausgedrückt wird, ehe Jesus sie ausdrücklich für sich beansprucht. So wird zunächst unabhängig von der Anstößigkeit dieses Anspruchs jene Nähe als die enge Beziehung von Vater und Sohn entfaltet, ehe auch auf der Textoberfläche erscheint, dass der Sprecher dieser Rede der Sohn ist.
  3. Jesus spricht nun vom Gericht, das in seiner Hand liegt. Dies konnte nicht am Beginn der Rede stehen, da die Übergabe der Gerichtsvollmacht erst in deren Verlauf zur Sprache kommt (V.21: τὴν κρίσιν πᾶσαν δέδωκεν τῷ υἱῷ, V.27: ἐξουσίαν ἔδωκεν αὐτῷ κρίσιν ποιεῖν). Allerdings ist dabei zu beachten, was nach dem Vorangegangenen zur Gerichtsvollmacht dazugehört: die Vollmacht Leben zu vermitteln (VV.21.24f.; s.a. VV.26.28f.). Was bereits im Nikodemus-Gespräch grundsätzlich formuliert wurde, ist auch an dieser Stelle festzuhalten: nicht Gericht ist Ziel der Sendung des Sohnes, sondern die Rettung der Welt. In unserer Rede wird aber das Gericht stark betont, weil die Vollmacht Jesu profiliert werden soll. Der Sohn soll wie der Vater geehrt werden – dies ist nach VV.22f. das Ziel der Übergabe des Gerichts an den Sohn.

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