Die Zusage des Reiches Gottes in den Seligpreisungen
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Inhaltsverzeichnis
B. Ausgangstext: Mt 5,1–12 par. Lk 6,20–26
- 1. Literarkritische Analyse der Seligpreisungen
- 1.1 Vergleich zwischen Mt 5,3–12 und Lk 6,20b–23
(1) Unterschiede im Wortlaut
(2) Zu den Weherufen Lk 6,24–26
(3) Frage nach der ursprünglichen Gestalt - 1.2 Rekonstruktion der ursprünglichen Fassung
(1) Umfang
(2) Wortlaut - 2. Die Seligpreisungen im Rahmen der Botschaft Jesu
- 2.1 Struktur der Makarismen(reihe)
- 2.2 Grundaussage
(1) Das Paradox der Seligpreisungen
(2) Zeitliche Perspektive
(3) Die Seligpreisungen als Zuspruch - 2.3 Wer sind die »Armen«?
(1) Biblische Perspektive auf die »Armen«
(2) Folgerungen für die Seligpreisungen Jesu - 2.4 Die Seligpreisungen im Wirken Jesu
(1) Heilszusage
(2) Zeitstruktur
(3) Das Mahl als Bild für die Vollendung
- 3. Exegetische Hinweise zu Mt 5,3–12
A. Thematische Perspektiven
1. Makarismen in atl-frühjüdischer Literatur
Inhaltsverzeichnis
1.1 Grundformen
Die Redeform des Makarismus ist aus atl und frühjüdischer Literatur bekannt. Erkennungszeichen ist die Eröffnung einer Aussage mit »Selig« (im Hebräischen als Substantiv [Glück!], im Griechischen als Adjektiv: μακάριος [glücklich!]). Es folgt die Beschreibung dessen, der selig zu preisen ist, über eine bestimmte Handlung oder Haltung. Zum Dritten kann sich eine Begründung der Seligpreisung anschließen.
Beispiele für zweigliedrige Makarismen (aufs Ganze eher selten)
»Selig alle, die sich bei ihm bergen.« (Ps 2,12)
»Selig das Volk, dessen Gott der Herr ist, das Volk, das er sich zum Erbteil erwählt hat.« (Ps 33,12)
Beispiele für dreigliedrige Makarismen:
»Selig der Mensch, der Weisheit gefunden hat, der Mensch, der Verständnis erlangt. Denn ihr Erwerb ist besser als Silber, und (wertvoller) als Gold ihr Gewinn.« (Spr 3,13)
»Selig, wer achthat auf den Geringen; am Tag des Übels wird der Herr ihn erretten.« (Ps 41,2; in diesem Fall findet sich keine ausdrückliche Begründung, doch legt der Zusammenhang ein Begründungsverhältnis nahe; vergleichbar z.B. auch Ps 1,1–3).
1.2 Entwicklung I: Reihung
Eine Reihung mehrerer Makarismen ist in der hebräischen Bibel unüblich. Mehr als zwei Seligpreisungen sind hier nicht zusammengestellt (vgl. Ps 32,1f.; 84,5f.; 119,1f.; 137,8f.; 144,15). Dies ändert sich in der nichtkanonischen frühjüdischen Literatur. In diesen frühjüdischen Werken zeigt sich eine Entwicklung, die für die Makarismen der Bergpredigt/Feldrede in doppelter Hinsicht von Bedeutung ist.
Es begegnen nun längere Reihen von Seligpreisungen, wie sie auch in der Jesustradition belegt sind, z.B. in Sir 25,7–10; 14,20–27, hier allerdings ohne Wiederholung des »selig« (s.a. Tob 13,15f.; 4Q525). Wichtiger ist allerdings der inhaltliche Wandel, um den es im Folgenden geht.
1.3 Entwicklung II: Inhaltliche Verschiebung
(1) Von der weisheitlichen Mahnung …
Traditionell waren die Makarismen Ausdruck der weisheitlichen Sorge um ein rechtes, gelingendes Leben. Die Haltungen und Handlungen, die Gegenstand einer Seligpreisung waren, zielten nicht auf das Geschick nach dem Tod, sondern auf eine erfüllte diesseitige Existenz. Im Rahmen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs war die Vorstellung leitend, dass das rechte Verhalten ein Leben zur Folge habe, das frei von Not und Schicksalsschlägen sei: aus dem Tun folgt das entsprechende Ergehen.
»Selig der Mann, den du, Herr, erziehst, den du mit deiner Weisung belehrst. Du bewahrst ihn vor bösen Tagen, bis man dem Frevler die Grube gräbt.« (Ps 94,12f.)
»Selig der Mann, der den Herrn fürchtet und ehrt und sich herzlich freut an seinen Geboten. Seine Nachkommen werden mächtig im Land, das Geschlecht der Redlichen wird gesegnet.« (Ps 112,1f.)
Diese innere Verbindung zwischen Tun und Ergehen wird brüchig durch gegenläufige Erfahrungen. Das Buch Ijob ist literarischer Niederschlag der Kritik am Tun-Ergehen-Zusammenhang. In der jüdischen Geschichte bewirkte vor allem die Religionsverfolgung unter Antiochus IV. (167 v. Chr.), dass jene alte weisheitliche Überzeugung nicht mehr mit den aktuellen Erfahrungen vermittelt werden konnte. Gerade die Frommen, die sich an die Weisungen der Tora hielten, mussten Leiden und auch den Märtyrertod auf sich nehmen. Das konnte in dieser Situation nicht mehr als Folge eines schuldhaften Tuns interpretiert werden.
(2) … hin zur Endzeithoffnung
So richtete sich in der Apokalyptik die Hoffnung auf eine von Gott herbeigeführte Weltenwende, die den Frommen die Erlösung bringt. Auch die Sprachform der Makarismen hatte teil an dieser Neuorientierung der Frömmigkeit. Sie zielte nun nicht mehr auf ein gutes Geschick in diesem Leben, sondern nahm das Erreichen der endzeitlichen Erlösung ins Auge:
»In jenen Tagen werden alle die selig sein, die die Weisheitsrede annehmen und sie verstehen und die Wege des Höchsten befolgen und wandeln auf dem Weg seiner Gerechtigkeit und die nicht frevelhaft werden mit denen, die frevelhaft sind, denn sie werden gerettet werden.« (äthHen 99,10)
»Selig, wer ausharrt 1335 Tage. Du aber geh hin auf das Ende zu! Und du wirst ruhen und wirst auferstehen zu deinem Los am Ende der Tage.« (Dan 12,12f.)
»Selig, ihr Gerechten und Auserwählten, denn herrlich wird euer Erbteil sein.« (äthHen 58,2)
Dieser endzeitliche Aspekt ist auch für die jesuanischen Seligpreisungen grundlegend, wenn sich in ihnen die Verheißung des Reiches Gottes und der Gedanke der zukünftigen Erlösung findet.
1.4 Sitz im Leben und sprachliche Intention
Die Frage, wo die Makarismen ihren ursprünglichen Ort haben, wird unterschiedlich beantwortet. Dass sie aus dem Kult stammen, ist weniger wahrscheinlich, weil sich ein direkter Bezug auf Gott in der Seligpreisung nicht findet (anders als bei den mit »gepriesen« [baruch] eingeleiteten Aussagen). Meist wird die weisheitliche Mahnung als »Sitz im Leben« erkannt: Leitend sei die Absicht, zu dem Handeln aufzufordern, das mit dem »selig« markiert wird.
Dies dürfte in der Tat für nicht wenige Makarismen zutreffen, doch lässt sich wohl keine einheitliche Funktion erkennen. Es gibt auch Makarismen, die nicht auf ein bestimmtes Handeln zielen, sondern als Zuspruch und Glückwunsch zu verstehen sind (z.B. Jes 30,18; 32,20; vgl. I. Broer). In diesen Fällen verstärkt die Form der Seligpreisung nicht eine Mahnung, die auch anders aussagbar wäre (etwa: »Selig alle, die auf ihn vertrauen«/»Wer ihm vertraut, leidet nicht Schaden«). Der Charakter des Zuspruchs in den jesuanischen Seligpreisungen ist also traditionsgeschichtlich kein Novum.
2. Zur Frage der Authentizität der Seligpreisungen
Dass die Seligpreisungen auf Jesus zurückgeführt werden können, ergibt sich durch mehrere Beobachtungen. Folgende Kriterien zur Bestimmung von authentischem Jesusgut können angewandt werden.
Inhaltsverzeichnis
2.1 Kriterium der mehrfachen Bezeugung
Dieses Kriterium gilt nicht für den Inhalt der betrachteten Sprüche, wohl aber für die Sprachform der Makarismen. Zwar fehlt sie im MkEv, doch ist das insofern nicht überraschend, als dort die Worttradition insgesamt schwächer vertreten ist. Makarismen sind in verschiedenen Traditionsschichten belegt: Neben der Logienquelle das Sondergut des MtEv (Mt 16,17), des LkEv (Lk 11,28; 14,14; 23,29) und des JohEv (Joh 13,17).
Man muss nicht annehmen, dass alle diese Belege authentische Jesusworte sind. Das recht häufige Erscheinen von Makarismen in der Jesusüberlieferung könnte aber ein Reflex dieser Sprachform in der Botschaft Jesu sein. Da allerdings Makarismen auch von der Traditionsgeschichte her gewissermaßen »in der Luft« lagen, hat das Argument aus der mehrfachen Bezeugung keinen allzu hohen Stellenwert.
2.2 Kriterium der Unähnlichkeit
Makarismen sind im NT aufs Ganze gesehen relativ selten. Man kann deshalb kaum ein besonderes Interesse der urchristlichen Überlieferung an der Gestaltung von Seligpreisungen erkennen. Vor allem lassen sich keine überzeugenden Parallelen zu Form und Inhalt der Seligpreisungen aus der Q-Tradition nachweisen. Weder findet sich sonst die Reihung mehrerer Makarismen, noch ist der Aufbau vergleichbar. Inhaltlich fehlt im NT außerhalb der Q-Makarismen der Zuspruch an eine Gruppe, deren Gegenwart durch eine Mangelsituation gekennzeichnet ist.
2.3 Kriterium der Kohärenz
Die Seligpreisung der Armen Q 6,20f. passt sich ausgezeichnet in das Gesamtbild der Botschaft Jesu ein. Da dies weiter unten näher dargestellt wird (s.u. B. 2.4), muss dies hier nicht weiter begründet werden. Die Anwendbarkeit des Kriteriums der Kohärenz ist in diesem Fall das wichtigste Argument für die Rückführung der Q-Seligpreisungen auf Jesus.
Eine Fehlanzeige bestätigt das Ergebnis: Die Seligpreisungen enthalten keine ausdrückliche Christologie. Auch in dieser negativen Hinsicht sind sie in das Wirken Jesu einzuordnen.
B. Ausgangstext: Mt 5,1–12 par. Lk 6,20–26
1. Literarkritische Analyse der Seligpreisungen
Inhaltsverzeichnis
1.1 Vergleich zwischen Mt 5,3–12 und Lk 6,20b–23
Die Seligpreisungen, auch Makarismen genannt, sind in zwei verschiedenen Fassungen überliefert. Lk bietet eine Reihe von vier dieser Zusagen (Arme, Hungernde, Weinende, um des Menschensohnes willen Verfolgte), im MtEv lesen wir außer den Parallelen zu den lukanischen fünf weitere Seligpreisungen (Sanftmütige, Barmherzige, Reine im Herzen, Friedensstifter, um der Gerechtigkeit willen Verfolgte). Neben dem Unterschied im Umfang sind auch einige Differenzen im Wortlaut festzuhalten.
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Mt 5,3–12 |
Lk 6,20b–23 |
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3 Selig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel. |
20b Selig die Armen, denn euer ist das Reich Gottes. |
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4 Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. |
21b Selig die jetzt Weinenden, denn ihr werdet lachen. |
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5 Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben. |
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6 Selig die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, denn sie werden gesättigt werden. |
21a Selig die jetzt Hungernden, denn ihr werdet gesättigt werden. |
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7 Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit finden. |
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8 Selig die Reinen im Herzen, denn sie werden Gott sehen. |
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9 Selig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. |
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10 Selig die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihrer ist das Reich der Himmel. |
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11 Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles Schlechte [lügnerisch] sagen gegen euch um meinetwillen. 12 Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln. So nämlich haben sie die Propheten vor euch verfolgt. |
22 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausstoßen und wenn sie euch schmähen und euren Namen als schlecht wegwerfen um des Menschensohnes willen. 23 Freut euch an jenem Tag und springt, denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Genauso haben ihre Väter an den Propheten gehandelt. |
(1) Unterschiede im Wortlaut
Die mt Fassung ist durchweg in der dritten Person formuliert, Lk dagegen wechselt zwischen 3. Person in der Zusage (»Selig die Armen«) und 2. Person in der Begründung (»denn euer ist das Reich Gottes« in der Einheitsübersetzung ist das nicht zu erkennen).
Lk betont die gegenwärtige Situation durch ein ausdrückliches »jetzt«: »Selig die jetzt Hungernden«; »selig die jetzt Weinenden«.
In Mt 5,3 ist die Rede von den Armen im Geist. Auch der Hunger steht bei Mt nicht absolut, er richtet sich auf »die Gerechtigkeit«; außerdem steht in Parallele zu ihm der Durst – auch dadurch gewinnt er metaphorischen Sinn, der in Lk 6,21 nicht zu erkennen ist.
Auch in inhaltlich parallelen Aussagen unterscheiden sich Mt und Lk in der Wortwahl:
- Statt »Reich Gottes« schreibt Mt gewöhnlich (rabbinischem Sprachgebrauch entsprechend) »Reich der Himmel«, so auch in 5,3 (vgl. Lk 6,20).
- In Mt 5,4 wird den Trauernden verheißen, dass sie getröstet werden; nach Lk 6,21 wird den Weinenden zugesagt, dass sie lachen werden.
- Die Seligpreisung der Verfolgten weist bei aller inhaltlichen Übereinstimmung zahlreiche Differenzen im Wortlaut auf. In den beschriebenen Aktionen gegen die selig Gepriesenen (Mt 5,11; Lk 6,22) ist allein das Verb »schmähen« identisch. Statt des Personalpronomens (»um meinetwillen«) bietet Lk einen Hoheitstitel (»um des Menschensohnes willen«).
- Der Aufruf zum Jubel ist ebenfalls zum Teil unterschiedlich formuliert (»jubeln«/»springen«). Dasselbe trifft zu für den Bezug auf das Geschick der Propheten (»vor euch«/»ihre Väter«; »verfolgen«/handeln an«).
(2) Zu den Weherufen Lk 6,24–26
In Lk 6,24–26 folgen Weherufe, die als Gegenstück zu den Seligpreisungen gestaltet sind. Das Wehe ergeht an die Reichen (vgl. »Arme« in V.20b), an die Satten (vgl. »Hungernde« in V.21a), an die Lachenden (vgl. »Weinende« in V.20b) und an diejenigen, denen die Menschen »schön reden« wie »ihre Väter den Falschpropheten« (vgl. VV.22f).
Anders als in den Seligpreisungen ist allerdings die Anrede-Form in zwei der drei Rufe konsequent durchgehalten. Nicht erst der Begründungssatz ist in der 2. Person formuliert, sondern schon die Androhung des Wehes selbst: »Wehe euch, Reichen, denn ihr habt euren Lohn schon empfangen.« (Lk 6,24; anders 6,26).
(3) Frage nach der ursprünglichen Gestalt
Der Vergleich führt zu folgenden Fragen im Blick auf die ursprüngliche Gestalt:
- Welchen Umfang hatten die Seligpreisungen? Sind die Weherufe ein ursprünglicher Bestandteil?
- Waren die Makarismen in der 3. Person formuliert oder im lk Wechsel von 3. und 2. Person? Lassen sich anderweitige Unterschiede im Wortlaut zwischen parallelen Seligpreisungen bei Mt und Lk für eine Rekonstruktion auswerten?
1.2 Rekonstruktion der ursprünglichen Fassung
(1) Umfang
Nach der Zwei-Quellen-Theorie haben Mt und Lk die Seligpreisungen der Logienquelle Q entnommen. Stammen die zusätzlichen Seligpreisungen bei Mt aus einer Sondertradition bzw. von Mt selbst oder hat Lk die Version von Q gekürzt? Dieselbe Frage stellt sich umgekehrt für die Weherufe. Schließlich ist (über den Vergleich zwischen Mt und Lk hinaus) zu untersuchen, ob die kurze Makarismenreihe in Lk 6,20–23 einheitlich ist.
Es lassen sich keine Gründe anführen, warum Lk eine eventuell längere Fassung der Seligpreisungen gekürzt haben sollte. Entweder stammen die Makarismen 3 und 5–8 von Mt oder aus der vormt Tradition. Dies muss an dieser Stelle nicht entschieden werden. Eine Rekonstruktion der Q-Vorlage muss bei der kürzeren Version des Lk ansetzen.
Während das gerade vorgestellte Urteil kaum strittig ist, wird die Überlieferung der Weherufe kontrovers diskutiert. Manche Autoren meinen, dass Mt die Weherufe in Q gelesen, aber ausgelassen hat. Die vorgetragenen Argumente sind bedenkenswert, aber kaum zwingend, um eine Kenntnis und Auslassung der Weherufe durch Mt zu beweisen. Mehrheitlich wird davon ausgegangen, dass die Weherufe nicht ursprünglich zu den Seligpreisungen gehören.
In der Reihung der Seligpreisungen in Lk 6,20–23 fällt die vierte aus dem Rahmen, und zwar in dreierlei Hinsicht:
- Im Blick auf den Umfang ist festzustellen, dass sie wesentlich ausführlicher ist, sich nicht beschränkt auf eine knappe Seligpreisung mit der folgenden Begründung.
- Inhaltlich ergibt sich ein Unterschied in der Adressierung des Makarismus. Es werden diejenigen seliggepriesen, die aufgrund ihres Bekenntnisses verfolgt werden könnten. Die Verheißung bleibt allgemein (»Lohn im Himmel«), ist nicht als Umkehrung der Not vorgestellt.
- In formaler Hinsicht fällt die ganz andere sprachliche Gestaltung der vierten Seligpreisung auf.
Die vierte Seligpreisung in Lk 6,22f. stellt eine sekundäre Erweiterung dar. Im Gegensatz zu den parallel gestalteten drei ersten Makarismen (s.u. 3.) legt sich in diesem Fall auch eine Rückführung ins Wirken Jesu nicht nahe. Zu sehr scheint sich hier schon die Situation der nachösterlichen Verkündigung zu spiegeln: die Erfahrung von Ablehnung »um des Menschensohnes/um meinetwillen«, also aufgrund des Bekenntnisses zu Jesus.
(2) Wortlaut
Relativ eindeutig lassen sich mt oder vormt Zusätze erkennen.
- Dass die Armen im Geist seliggepriesen werden, mindert die Parallelität mit den beiden folgenden Makarismen, ist also wahrscheinlich nicht ursprünglich.
- Das Argument setzt allerdings voraus, dass die Seligpreisung der Hungernden ebenfalls in der lk Form ursprünglich ist. Das ist freilich gut begründet. Denn »Gerechtigkeit« als Objekt des Hungers (und des Durstes) in Mt 5,6 ist recht sicher als Eintrag erkenntlich. Dieser Begriff ist typisch für das MtEv (sieben Belege; je ein Mal in LkEv und JohEv). Die Annahme, das Interesse an der »Gerechtigkeit« habe zum Eintrag in die Seligpreisung geführt, liegt wesentlich näher, da ein Motiv für die Erweiterung angegeben werden kann. Damit ist auch die Erwähnung des Dürstens als sekundär erwiesen.
Vergleicht man den Wortlaut inhaltlich paralleler Makarismen,
- so lässt sich eindeutig die Formulierung »Reich der Himmel« als matthäisch erkennen, da diese nur im MtEv, und dort ganz überwiegend, begegnet.
- Was die Differenzen in der zweiten (wie auch der vierten) Seligpreisung betrifft, so sind sie äußerst schwierig zu beurteilen. Der grundsätzliche Sinn wird von diesen Unterschieden nicht berührt. Möglicherweise ist Mt in 5,4 näher am Ursprung als Lk.
- Am stärksten wird über die Frage der Adressierung diskutiert. Ist die durchgängige Formulierung in der 3. Person bei Mt ursprünglich oder der Wechsel von 3. und 2. Person bei Lk? Beide Positionen werden vertreten, keine lässt sich ausschließen; doch sprechen insgesamt die besseren Argumente wohl eher für die erste Annahme.
- Die lk Form macht insofern keinen ursprünglichen Eindruck, als sie eine Spannung zwischen dem »Selig« und der Begründung aufweist: nur der Nachsatz ist als Ansprache von Adressaten gestaltet. Dies könnte im Zuge der Anfügung der vierten Seligpreisung geschehen sein, die konsequent in der 2. Person Plural formuliert ist. Da dieser vierte Makarismus in der Kennzeichnung der Seligpreisung ganz anders gebaut ist (s.o.), hat das »selig seid ihr, wenn …« nicht auf das »selig die Armen …« usw. eingewirkt.
- Geht man vom Aramäischen aus, wäre bei einer Formulierung in der 2. Person Plural zu erwarten, dass im Griechischen ein entsprechendes Personalpronomen stünde (»ihr«). Die tatsächlich belegte Wendung spricht eher dafür, dass sich im Aramäischen die 3. Person Plural fand.
- Da Lk in seinem Werk eine gewisse Vorliebe für die Anrede-Form bezeugt, könnte er auch selbst (unter Einfluss der 4. Seligpreisung) für die Umformulierung in die 2. Person verantwortlich sein. Warum hat er aber dann die Makarismen nicht durchgängig in die zweite Person gesetzt? Der Grund dafür könnte in der literarischen Rahmung liegen. Jesus blickt auf die Jünger und spricht die Seligpreisungen. Wenn es dann heißt »selig die Armen«, bleibt eine gewisse Distanz zu den Adressaten auf der literarischen Ebene, die ja nicht als Hungernde und Weinende gezeichnet werden.
- Angesichts der Traditionsgeschichte (s.u. 2.) kann man die Formulierung in der 3. Person als den Normalfall bezeichnen. Allerdings ist dadurch die 2. Person nicht ausgeschlossen; auch sie ist belegt.
Worin liegt die Bedeutung des diskutierten Unterschieds? Der Charakter der Seligpreisung als ein Zuspruch wird deutlicher akzentuiert, wenn sie als Anrede formuliert ist. Dagegen sehen nicht wenige Autoren in den Makarismen in der 3. Person eher den Charakter einer Aufforderung zu einem Handeln, dem die Seligpreisung gilt. Es handelt sich aber höchstens um Akzente, nicht um Momente, die sich gegenseitig ausschlössen. Auch bei der Formulierung in der 3. Person kann man den Zuspruch-Charakter erkennen (s.u. B. 2.2 (3)).
Als wahrscheinlich älteste erreichbare Form der Seligpreisung ergibt sich also:
Selig die Armen, denn ihrer ist das Reich Gottes.
Selig die Hungernden, denn sie werden gesättigt werden.
Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.
Im Folgenden wird zunächst die in A.1 rekonstruierte jesuanische Fassung der Seligpreisungen ausgelegt. Im Anschluss finden sich exegetische Hinweise zur matthäischen Version.
2. Die Seligpreisungen im Rahmen der Botschaft Jesu
Inhaltsverzeichnis
- 2.1 Struktur der Makarismen(reihe)
- 2.2 Grundaussage
(1) Das Paradox der Seligpreisungen
(2) Zeitliche Perspektive
(3) Die Seligpreisungen als Zuspruch - 2.3 Wer sind die »Armen«?
(1) Biblische Perspektive auf die »Armen«
(2) Folgerungen für die Seligpreisungen Jesu - 2.4 Die Seligpreisungen im Wirken Jesu
(1) Heilszusage
(2) Zeitstruktur
(3) Das Mahl als Bild für die Vollendung
2.1 Struktur der Makarismen(reihe)
Die Struktur ist in allen drei Seligpreisungen gleich. Eröffnet wird die Aussage mit »selig«, es folgt die Nennung der Gruppe, für die diese Kennzeichnung gilt, schließlich die Begründung für die Seligpreisung der jeweiligen Gruppe.
Trotz dieser gleichen Struktur ist der erste Spruch von den beiden anderen inhaltlich unterschieden. Der zweite und dritte Makarismus zielen auf eine konkrete Not (Hunger, Trauer) und verheißen deren Beseitigung für die Zukunft; in der ersten Seligpreisung geht es allgemein um die Armen, denen das Reich Gottes in einer Gegenwartsaussage zugesprochen wird. Anders als den Hungernden und den Trauernden wird ihnen nicht die Beendigung ihres jetzigen Zustandes verheißen (»sie werden Reichtum erlangen« o.ä.; s. dazu auch unten B. 2.3).
Sowohl wegen der umfassenden Bestimmung der Adressaten (»Arme«) als auch wegen der Zusage der Gottesherrschaft kann man den ersten Spruch als Überschrift über die beiden folgenden verstehen bzw. diese als Konkretionen des ersten. Also: Was unter »Armen« zu verstehen ist, wird näher bestimmt durch die Begriffe »Hungernde« und »Trauernde«; entsprechend gilt: Die Zusage des Reiches Gottes bedeutet die Überwindung der konkreten Not (zur Spannung in den Zeitformen [Gegenwart/ Zukunft] s.u. B. 1.2, Abschnitt 2).
2.2 Grundaussage
(1) Das Paradox der Seligpreisungen
Die Seligpreisungen treffen eine paradoxe Aussage. Einerseits sprechen sie einen Glückwunsch aus, richten diesen andererseits aber an Menschen, die für ihre Lebenssituation nach gängigen Maßstäben nicht zu beglückwünschen sind. »Selig die Armen! Selig die Hungernden! Selig die Trauernden!« – für sich betrachtet klingen die Aussagen zynisch. Sie lassen aufhorchen, verlangen nach einer Fortsetzung, nach einer Begründung.
Diese Begründung wird in der »Überschrift« mit dem Bezug auf das Reich Gottes gegeben. Den Armen gehört die Basileia. Dies ist angesichts der Traditionsgeschichte der Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes allerdings ein Grund für eine Seligpreisung (s. Themenfeld »Die Charakteristika der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu«, A. 2.3).
Voraussetzung dafür, dass der Zuspruch einsichtig wird, ist die Annahme der Botschaft Jesu vom Reich Gottes. Nur wer dieser Kunde trauen kann, überwindet das Paradox der Seligpreisungen. Von der Basileia her erscheint die Gegenwart in einem ganz neuen Licht. Sie ist nicht Anlass zu Resignation und Verzweiflung, da sie erreicht wird von Gottes endgültiger Initiative zugunsten der Menschen, gerade derer, die in Israel am Rand stehen. Entscheidend ist also das Handeln Gottes, das Jesus verkündet. Nur von ihm her ist es möglich, Menschen in einer vordergründig trostlosen Gegenwart selig zu preisen.
(2) Zeitliche Perspektive
In zeitlicher Hinsicht fällt der Wechsel zwischen der Gegenwartsaussage in der »Überschrift« und den futurischen Formulierungen in den beiden folgenden Seligpreisungen auf. Diese Spannung bewahrt vor einem Verständnis der Makarismen als Vertröstung auf eine spätere Zeit oder ein Jenseits. »Jesus will darauf hinaus, daß die Zusage (=Gottesherrschaft) jetzt wirksam wird, sich jetzt ereignet, daß also die desolate Gegenwart durch seinen Zuspruch einen neuen Inhalt erfährt« (R. Hoppe).
Gleichwohl zeigen die futurischen Aussagen an: Die Gottesherrschaft ist in der Gegenwart noch nicht ganz angekommen. Dass Hungernde gesättigt, Trauernde getröstet werden, steht noch aus. Doch ist in dem, was die Gegenwart bestimmt (der Anbruch der Basileia), die Einlösung der Verheißungen für die Zukunft verbürgt. Auch um dies deutlich zu machen, steht die erste Seligpreisung als Überschrift über den beiden folgenden.
(3) Die Seligpreisungen als Zuspruch
Aus Inhalt und Struktur der Makarismen ergibt sich, dass sie als Zuspruch auszulegen sind – unabhängig von der Frage, ob sie ursprünglich in der 2. oder 3. Person formuliert waren. Der Charakter der Aufforderung, der von der atl-jüdischen Tradition mit der Sprachform der Seligpreisungen durchaus verbunden sein konnte (s.o. A. 1), ist in den Seligpreisungen Jesu nicht zu entdecken. Jesus ruft nicht dazu auf, arm, hungrig und trauernd zu sein; er spricht denen, die in einer solchen Lage sind, die Gottesherrschaft zu.
Dass ein Makarismus als Glückwunsch formuliert ist, wird in den Seligpreisungen Jesu nicht von einer anderen Funktion überlagert. Diese sind so aufgebaut, dass auf die Bestimmung der Betroffenen (Arme, Hungernde, Trauernde) sofort die Begründung des »selig« aus dem Handeln Gottes folgt. Ein menschlicher Beitrag ist nicht vorgesehen.
Bei dieser Deutung ist vorausgesetzt, dass die Begründungen der zweiten und dritten Seligpreisung als passivum divinum zu verstehen sind. Dies ist eine biblische Sprachform, die sich vor allem, aber nicht ausschließlich in apokalyptischer Literatur findet (s. z.B. Ps 37,17; Jes 35,5; Spr 14,32; Dan 7,14.27; Sir 2,3; 3,14). Gott wird als Handelnder nicht genannt, sondern durch eine passivische Formulierung wiedergegeben.
»Sie werden gesättigt werden« heißt: »Gott wird sie sättigen«. Hintergrund ist wohl die Scheu, Gottesnamen oder -bezeichnung auszusprechen, eine Scheu, die sich auch in der mt Formulierung »Herrschaft der Himmel« ausdrückt.
2.3 Wer sind die »Armen«?
In der obigen Darstellung wurde die Rede von den Armen nicht weiter befragt, sondern von unserem heutigen Verständnis ausgegangen. In biblischer Tradition ist der Begriff »Armer« allerdings etwas anders konnotiert als in unserer Alltagssprache, anders auch als in der Literatur aus der griechisch-römischen Umwelt. Dort bezeichnet »arm« primär einen sozio-ökonomischen Status. Arm (πτωχός) ist derjenige, der sich kaum das Notwendige für den Lebensunterhalt verschaffen kann, der an der Grenze des Existenzminimums lebt.
(1) Biblische Perspektive auf die »Armen«
In der hebräischen Bibel tragen die beiden Lexeme für »arm« (ani, anaw) einen Doppelsinn. Es geht nicht nur um wirtschaftliche Armut; »Armut« gewinnt auch einen religiösen Sinn. Um dies zu verstehen, ist ein Blick auf das Selbstverständnis Israels in der biblischen Tradition zu werfen.
Weil JHWH das Land Kanaan dem ganzen Volk gegeben hat, sollte es Armut in Israel eigentlich gar nicht geben; sie widerspricht dem Willen Gottes, der allen Lebensrecht gewährt hat. Deshalb werden die Armen nicht nur als Mittellose gesehen, sondern vor allem als Machtlose, denen das ihnen zustehende Recht entzogen wird. Gott steht auf der Seite dieser Armen und tritt für ihr Recht ein – ein wiederkehrendes Thema prophetischer Kritik (z.B. Am 2,6f.; 4,1–3; 5,7.10–12; Mi 2,1–11; 3,1–12).
Diesem Eintreten Gottes für die Armen, greifbar auch in Schutzbestimmungen für Witwen und Waisen, entspricht, dass die Armen ihr Vertrauen auf Gott setzen. Sie wissen sich abhängig von Gott, suchen bei ihm Schutz, unterstellen sich ihm in Demut (vgl. z.B. Ps 37,14–17, wo der Gegensatz von arm und reich durchaus noch eine Rolle spielt: I. Broer).
Von dieser Bedeutung von Armut konnte sich die Rede von den »Armen« ausweiten und grundsätzliche religiöse Konnotation gewinnen. Die Qumran-Gruppe, die für sich in Anspruch nimmt, der rechten Tora-Auslegung zu folgen, verwendet »Arme« als Selbstbezeichnung. In diesem Fall dürfte die sozio-ökonomische Dimension des Begriffs keine Rolle mehr spielen.
(2) Folgerungen für die Seligpreisungen Jesu
Was bedeutet dieser Durchgang für das Verständnis der Seligpreisungen? Die Begriffsgeschichte schließt keineswegs aus, bei den »Armen« an wirtschaftlich Arme zu denken. Der genaue Gehalt des Begriffs erschließt sich nach dem jeweiligen geschichtlichen und literarischen Kontext. Beides spricht nicht dafür, das ökonomische Moment aus den Seligpreisungen herauszuhalten: Zu den Adressaten Jesu in Galiläa gehörten wirtschaftlich Arme; Landverlust und Verschuldung waren ein Kennzeichen jener Epoche. Und der literarische Zusammenhang ruft mit dem Bezug auf die Hungernden das genannte Moment ebenfalls wach.
Andererseits muss man den Sinn der Seligpreisungen nicht auf diese Dimension beschränken. Jesus sprach mit seiner Basileia-Botschaft nicht nur wirtschaftlich Arme an. Die Zöllner etwa gehörten nicht zu dieser Schicht; in Lk 8,3 sind Frauen erwähnt, die Jesus mit ihrem Vermögen unterstützten, offensichtlich also nicht alles verkauften und den Armen gaben, um dann Jesus mittellos nachzufolgen.
Sie könnten sich in den »Armen« in dem gezeichneten religiösen Sinn entdecken, indem sie ihr Vertrauen ganz auf den von Jesus verkündeten Gott setzten. Und die Makarismenreihe als ganze bestätigt auch das weitere Verständnis: Der Bezug auf Trauernde (oder Weinende) ist nicht auf wirtschaftliche Armut zu beschränken. Dass den Armen das Reich Gottes (und nicht die Umkehrung des jetzigen Zustandes) zugesprochen wird, passt sich in dieses weite Verständnis des Begriffs ein.
Der atl-jüdische Hintergrund des Armenbegriffs kann bestätigen, was zum Verständnis der Seligpreisungen bereits festgehalten wurde: Es geht nicht um einfache Vertröstung, die vom gegenwärtigen Elend ablenken und die Armen »ruhigstellen« soll. Hinter dem Begriff »Armer« steht die Vorstellung, dass Gott für das Recht der Machtlosen eintritt. Dass Jesus daraus keine konkreten Konsequenzen für soziale Reformen gezogen hat, hängt vor allem mit seiner endzeitlichen Perspektive zusammen (s.a. B. 2.4 (2)); es berechtigt aber nicht zu dem Urteil, die Seligpreisungen würden die Not verharmlosen und möglichen Protest auf ein Jenseits verweisen.
Ebenfalls ausgeschlossen ist ein Verständnis der Seligpreisungen als Einweisung in eine »gebückte Frömmigkeit«, die in Demut sich bis zur Selbstaufgabe zurücknimmt, um alles von Gott zu erwarten. »Arme« sind diejenigen, denen durch die herrschenden Verhältnisse das Recht entzogen wurde und denen nichts anderes bleibt als auf Gott zu hoffen. Diesen wird Rettung durch Gott zugesagt. Daraus ist kein Frömmigkeitsideal abzuleiten, das ungerechte Strukturen stabilisiert (R. Hoppe). Gegen solche Konsequenzen spricht im Übrigen auch der Charakter des Zuspruchs, der die Seligpreisungen Jesu prägt (s.o. B. 2.2 (3)).
2.4 Die Seligpreisungen im Wirken Jesu
Die Seligpreisungen sind in Botschaft und Wirken des historischen Jesus ohne Schwierigkeiten einzuordnen. Dies lässt sich in mehreren Punkten entfalten.
(1) Heilszusage
Jesus verkündet die Basileia als göttliche Heilszusage für alle in Israel, auch für die an den Rändern (»Zöllner und Sünder«). Dieser Grundzug prägt Struktur und Inhalt der Makarismen. Sie sagen Heil denen zu, die dies von ihrer gegenwärtigen Lage her nicht erwarten können; so sind sie nur einsichtig von der Begründung im Handeln Gottes her. Der Akzent liegt auf dem Handeln Gottes, der seine Herrschaft durchsetzt als Geschenk: Die Menschen können sie nur annehmen, aber nicht herbeiführen. Dies wird in den Seligpreisungen durch die Auswahl der angeführten Gruppen verdeutlicht (s.a. Mk 4,26–29).
Jesus illustriert den dargestellten Grundzug auch durch sein Handeln: in der Gemeinschaft mit »Zöllnern und Sündern« (s. dazu Themenfeld »Konflikte um die Gemeinschaft Jesu mit Sündern und seine Sabbatauslegung«, A. 1.). Sie kann auch als Umsetzung der Seligpreisungen verstanden werden. Sicher deckt sich beides nicht vollständig, denn die Makarismen enthalten nicht das Moment des Zuspruchs an Sünder. Insofern Jesus aber in der Gemeinschaft mit Sündern die Voraussetzungslosigkeit der endzeitlichen Zuwendung Gottes demonstriert, besteht durchaus ein innerer Zusammenhang zu den Seligpreisungen, die auch den Akzent auf die Initiative Gottes legen.
(2) Zeitstruktur
Die Spannung zwischen »schon« und »noch nicht«, die für die Basileia-Botschaft Jesu als charakteristisch einzustufen ist (s. Themenfeld »Die Charakteristika der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu«, A. 3.1, Abschnitt 3), prägt die Seligpreisungen durch die Aufeinanderfolge von Gegenwartsaussage (»ihnen gehört das Reich Gottes«) und futurischen Formulierungen (»werden gesättigt/getröstet werden«; s.o. B. 1.2, Abschnitt 2).
Dass das Reich Gottes den Armen zugesagt, ihnen die Überwindung ihrer Not durch die endzeitliche Initiative Gottes verheißen wird, erklärt eine Leerstelle im Wirken Jesu. Anders als die Propheten, die sich, wie gesehen, ebenfalls zu Sprechern für das Gottesrecht der Armen machen konnten, bietet die Jesusüberlieferung keine Anhaltspunkte für eine konkrete Sozialkritik. Dies dürfte aus der endzeitlichen Perspektive zu erklären sein, wie sie gerade die Seligpreisungen pointiert bezeugen. Jesus verkündete keine Reform der Welt, sondern das Ende der Welt (J.P. Meier).
(3) Das Mahl als Bild für die Vollendung
Die Seligpreisungen lassen sich verbinden mit dem einzig nennenswerten Bild, das sich in der Jesustradition für die Vollendung der Basileia findet, dem Bild vom Festmahl (s. Mt 8,11fpar.; Mk 14,25parr.; Lk 14,16–24par.; s.a. Themenfeld »Die Charakteristika der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu«, A. 3.1, Abschnitt 2). Mit diesem Bild steht die Sättigung der Hungernden in innerem Zusammenhang.
3. Exegetische Hinweise zu Mt 5,3–12
Manche Ausleger deuten die mt Seligpreisungen als »ethisierend«: Nicht mehr der Zuspruch für Menschen in notvoller Lage sei entscheidend, sondern die Mahnung zum rechten Verhalten. Dies trifft für manche Makarismen bei Mt zu, kaum aber als durchweg erkennbare Tendenz.
V.3
Selig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel.
Da der Begriff des Armen nicht auf den ökonomischen Aspekt beschränkt ist, bringt die mt Ergänzung »im Geist« kein grundsätzlich neues Moment ein. Die »Armen im Geist« sind diejenigen, die sich ihrer Angewiesenheit auf Gott bewusst sind.
Damit ist das Moment wirtschaftlicher Armut zwar zurückgedrängt, aber nicht ausgeschlossen. Der Charakter des Zuspruchs geht durch die mt Ergänzung nicht verloren. Die Seligpreisungen werden auch in der Folge nicht durchweg »ethisiert«.
Zugesagt wird, wie auch in V.10, die Himmelsherrschaft im Präsens. Die dazwischenstehenden Seligpreisungen entfalten die Zusage der Basileia. Die futurische Formulierung deutet an: Die Verheißung des Gottesreiches verwirklicht sich voll erst in der Zukunft.
V.4
Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.
Die Seligpreisung der Trauernden könnte vor dem Hintergrund von Jes 61,2f. formuliert sein. Die Trauer bezieht sich dann am ehesten auf das noch nicht voll verwirklichte Heil, Gottes Herrschaft hat sich noch nicht machtvoll durchgesetzt, die Gerechten bleiben bedroht (s.a. 10,17–22; 24,9–14; 5,10–12).
Die Spannung zu 9,15 (Ausschluss des Trauerns) erklärt sich wohl so, dass dort, anders als in 5,4, der Gegenwartsaspekt der Basileia im Blick ist.
Der Zuspruch ist im Sinn eines passivum divinum zu deuten. Die Grenzen einer konsequent ethischen Deutung der Makarismen werden deutlich: Die Trauer ist nicht Gegenstand eines Appells.
V.5
Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben.
In die dritte Seligpreisung fließt Ps 36,11LXX ein. Daraus ergibt sich, dass mit den »Sanftmütigen« vor allem Machtlose bezeichnet sind. Die LXX übersetzt mit diesem Begriff das hebräische anawim (Arme).
Im Rahmen des MtEv tritt allerdings eine andere Konnotation in den Vordergrund. Zweimal wird Jesus als demütig vorgestellt (11,29; 21,5). In diesen Zusammenhängen kann das Wort nicht »machtlos« bedeuten. Da zudem in 11,29 Jesus als nachzuahmendes Vorbild erscheint (»lernt von mir«), dürfte es in 5,5 um diejenigen gehen, die Jesus auf dem Weg des Macht- und Rechtsverzichts, der Demut, nachfolgen.
Die Verheißung ist wohl auf das Erben der Erde, nicht des Landes (Israel) zu beziehen (so in Ps 36LXX; der griechische Begriff γῆ/ge ist mehrdeutig). Die Landverheißung wurde in der atl-jüdischen Tradition entgrenzt, ein Interesse des Mt an einer auf das Land Israel bezogenen Verheißung ist sonst nicht erkennbar. Eine auf das »Diesseits« bezogene Erlösungsvorstellung kann sich abzeichnen, möglicherweise geht es aber nur um eine Aussage über die Umkehrung der Verhältnisse ohne konkrete Vorstellung des Heilszustandes.
V.6
Selig die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, denn sie werden gesättigt werden.
Die Seligpreisung der Hungernden ist erweitert um ein Objekt des Hungers (und Durstes): die Gerechtigkeit. Die Metaphorik von Hunger und Durst legt nahe, dass das Sichereignen oder der Empfang der Gerechtigkeit dem Tun des Menschen entzogen ist. Es geht deshalb nicht, wie allerdings häufig vertreten, um menschliches Gerechtigkeitshandeln. Im Blick ist eine Handlung oder eine Gabe Gottes.
Dafür spricht außerdem die Verheißung der Sättigung: Gott wird jenen Hunger stillen. Dann kann in ihm nicht das Moment der menschlichen Aktivität vorherrschen. Bestimmend ist der Gedanke der Ausrichtung auf Gott, des Empfangens von Gott her.
V.7
Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit finden.
Die Entsprechung von Verhalten und Geschick ist nicht auf der Ebene menschlicher Erfahrung anzusiedeln, sondern, wie in den übrigen Makarismen, auf das endzeitliche Handeln Gottes ausgerichtet.
Erbarmen spielt auch in Wirken und Verkündigung Jesu nach dem MtEv eine besondere Rolle (9,27; 20,30; 17,15; 15,22; außerdem 9,13; 12,7; 23,23). Schließt man auch das Thema »Vergebung« ein, erweitert sich der Bezugskreis noch einmal (6,14f.; 18,21–35).
V.8
Selig die Reinen im Herzen, denn sie werden Gott sehen.
Da das Herz in jüdischer Anthropologie die Mitte der Person bezeichnet, kann die »Herzensreinheit« sich nicht nur auf das Innere des Menschen beziehen. Sie äußert sich auch in seinem Tun und Lassen (s.a. Mt 15,19; 12,34).
Das Herz als entscheidende Größe des Handelns erscheint auch an anderen Stellen der Bergpredigt (5,28; 6,21).
Die Verheißung der Gottesschau richtet sich, ohne innere Verbindung zum Vordersatz, auf das endzeitliche Heil (nicht auf kultische Gottesbegegnung). Was den Menschen in ihrer irdischen Existenz nicht möglich ist, wird den »Herzensreinen« für die vollendete Basileia verheißen.
V.9
Selig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.
Das Thema des Friedens ist im MtEv nicht besonders profiliert (10,13; 10,34 steht nur vordergründig in Spannung zu 5,9).
Verbindungen zum ganzen Evangelium ergeben sich zunächst aus der Verheißung in V.9b (»Söhne Gottes«). Sie ermöglicht eine Verbindung zur Antithese von der Feindesliebe (5,44f.).
Sachlich kann auch die Antithese vom Verzicht auf Gegengewalt (5,38–42) und vom Zürnen (5,21–26) auf die Friedensstiftung bezogen werden. Auch was über Vergebung gesagt ist (s.o. zu V.7), kann als Entfaltung der Seligpreisung verstanden werden. Friedensstifter sind also nicht unparteiische Vermittler, sondern selbst in einen Konflikt involviert.
V.10
Selig die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihrer ist das Reich der Himmel.
In der Seligpreisung der »um der Gerechtigkeit willen Verfolgten« ist die Gerechtigkeit auf der Seite der Menschen zu veranschlagen. Es geht aber nicht um ein Gerechtigkeitshandeln, das sich an der Gerechtigkeitsforderung der Bergpredigt orientierte, denn:
- Das rechte Handeln der Jünger führt nach 5,13–16 nicht zu Verfolgung, sondern hat umgekehrt missionarische Bedeutung.
- Die parallele Formulierung in 5,11 (Verfolgung »um meinetwillen«) weist auf ein wesentlich christologisches Moment: Die Bindung der Jünger an Jesus, ihr Bekenntnis zu ihm, ruft Bedrängnis hervor (so auch 10,17f.22; 24,9; 23,34).
Weil die Jünger dem Gemeinschaftsverhältnis zu Christus entsprechen, kann es zu Verfolgungen kommen.
Der Makarismus ist also in erster Linie Zusage, nicht Mahnung: Wer die negative Erfahrung macht, um seines Bekenntnisses zu Christus willen verfolgt zu werden, wird seliggepriesen.
VV.11f.
Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles Schlechte [lügnerisch] sagen gegen euch um meinetwillen. Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln. So nämlich haben sie die Propheten vor euch verfolgt.
Die letzte Seligpreisung ist durch zwei Stichworte mit der vorherigen verbunden (verfolgen, um … willen). Neben Verfolgung geht es um Böses, das den Jüngern bewusst fälschlicherweise nachgesagt wird.
Die inhaltliche Füllung der letzten beiden Makarismen zeigt, dass die Jünger als primäre Adressaten der Bergpredigt gedacht sind.
Der Blick richtet sich nun deutlich in die Zukunft. Es wird ein vom Sprecher aus gesehen künftiges Geschick in den Blick genommen, das in der Erzählung selbst nicht eingelöst wird. Damit können sich die Adressaten des Evangeliums einschließen, was ja auch in den übrigen Texten zum Leidensgeschick der Jünger (s.o.) der Fall ist.
Die Imperative (»freut euch und jubelt!«) sind nur aus der eschatologischen Verheißung heraus zu verstehen. Mit der Rede vom Lohn ist nicht gesagt, Gott schulde dem Menschen das Heil. Der Lohngedanke weist darauf hin, dass Gott im Gericht nicht willkürlich handelt und deshalb das Tun und Lassen des Menschen nicht belanglos ist.
Der Schlusssatz zielt darauf, das erlittene Geschick in ein bekanntes Deutemuster (Verfolgung von Propheten) einzuordnen und so zu bewältigen.
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