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Inhaltsverzeichnis
- 1. Zur historischen Verortung des 1. Korintherbriefs
- 1.1 Die Stadt Korinth
(1) Lage
(2) Stadtgeschichte
(3) Handelszentrum
(4) Kultureller und ethnischer Schmelztiegel
(5) Typisch griechisch-römische Stadt - 1.2 Die Gemeinde von Korinth und der erste Aufenthalt des Paulus
(1) Der Gründungsaufenthalt
(2) Die Zusammensetzung der Gemeinde - 1.3 Der Fragebrief aus der Gemeinde
- 1.1 Die Stadt Korinth
- 2. »Leib Christi« als ekklesiologische Leitmetapher
- 2.1 Abgrenzungen
(1) Christus nicht als Haupt des Leibes
(2) Zwei verschiedene Redeweisen von »Leib«
(3) Religionsgeschichtlicher Hintergrund - 2.2 Die verschiedenen Aspekte der paulinischen Rede vom »Leib Christi«
(1) Zur Abendmahlstradition (1Kor 10,16f.)
(2) Zur Taufe (1Kor 12,13)
(3) Aufhebung von Unterschieden
- 2.1 Abgrenzungen
- 3. Zur paulinischen Gemeindeorganisation
B. Ausgangstext: Die paulinische Gemeindevorstellung nach 1Kor 12
A. Thematische Perspektiven
Paulus blieb auch nach seinen (Gründungs-)Aufenthalten in engem Kontakt mit den von ihm besuchten und gegründeten Gemeinden. Als »Gründergestalt« sieht er sich in einer besonderen Verantwortung gegenüber den Gemeinden, zugleich beansprucht er daraus auch eine besondere Autorität.
Zur Kommunikation mit den Gemeinden nutzt Paulus verschiedene Mittel: Er stützt sich auf Mitarbeiter, Kontaktpersonen und Boten, besucht Gemeinden persönlich und – für uns am wichtigsten – bleibt durch Briefe in Kontakt mit den Gemeinden. Der 1. Korintherbrief gibt einen besonders deutlichen Einblick in das Leben und die Probleme einer christlichen Gemeinde der ersten Generation, und es ist kein Zufall, dass die paulinische Gemeindevorstellung gerade in diesem Brief besonders deutlich erkennbar wird.
1. Zur historischen Verortung des 1. Korintherbriefs
Inhaltsverzeichnis
1.1 Die Stadt Korinth
(1) Lage
»Bimaris Corinthus«: Die Stadt liegt auf der Landenge zwischen Peloponnes und Attika (»Isthmos«), in unmittelbarer Nähe zu zwei Meeresbuchten (im Norden: Golf von Korinth; im Südosten: Saronischer Golf) und verfügt dementsprechend über zwei Häfen (im Norden: Lechaion, im Südosten: Kenchreae, vgl. Röm 16,1). Pläne zum Bau eines Verbindungskanals zwischen beiden Meeresteilen gab es zwar schon in römischer Zeit, sie scheiterten aber. Stattdessen wurden die Schiffe auf einem gepflasterten Ziehweg (»Diolkos«) vom einem zum anderen Meeresarm befördert, um sich die Umsegelung der Peloponnes zu sparen.
(2) Stadtgeschichte
Die ältere griechische Stadt gleichen Namens wurde 146 v.Chr. von den Römern zerstört; zwischen 48 und 44 v.Chr. wurde Korinth neu gegründet und sehr bald erneut wichtiges Handelszentrum. 27 v.Chr. wurde die Stadt Sitz des Statthalters der neu geschaffenen Provinz Achaia (vgl. Apg 18: Gallio). In römischer Zeit ca. 50.000–80.000 Einwohner.
(3) Handelszentrum
Aufgrund seiner optimalen geographischen Lage wurde Korinth wichtiges Handelszentrum (Warenumschlagplatz zwischen Ost und West).
(4) Kultureller und ethnischer Schmelztiegel
In Korinth findet sich ein buntes Gemisch verschiedenster Kulturen, Sprachen, Religionen und Nationalitäten. In der Antike besaß Korinth einen sprichwörtlich schlechten Ruf als Ort voller Laster (griech. κορινθιάζεσθαι/korinthiazesthai = zur Dirne gehen).
(5) Typisch griechisch-römische Stadt
Belegt sind verschiedene Kulte und Tempel, Agora mit Richterstuhl (griech. βῆμα/bema, vgl. Apg 18,12), Stadion, Theater, Burgberg (Akrokorinth), Asklepios-Heiligtum mit angeschlossenem »Tempellokal« (vgl. 1Kor 8).
1.2 Die Gemeinde von Korinth und der erste Aufenthalt des Paulus
(1) Der Gründungsaufenthalt
Paulus kam auf seiner zweiten (= ersten selbstständigen) Missionsreise wahrscheinlich 50 n.Chr. zum ersten Mal nach Korinth und traf dort auf das Ehepaar Priska und Aquila, das kurz zuvor aus Rom gekommen war (vgl. Apg 18,1f.). Aufgrund des gemeinsamen Berufs (Zeltmacher) ergab sich für Paulus eventuell ein Ansatzpunkt zu Gelderwerb und Missionstätigkeit.
Paulus bekehrte und taufte einzelne Personen in Korinth: Stephanas und sein Haus (vgl. 1Kor 1,16; 1Kor 16,15: »Erstlingsfrucht Achaias«), Krispus (vgl. 1Kor 1,14; Apg 18,8) und Gaius (1Kor 1,14).
Entgegen der Darstellung des Lukas (vgl. Apg 18,4–6) missioniert Paulus nicht innerhalb der jüdischen Gemeinde, sondern wohl eher im Umfeld der Gottesfürchtigen (heidnische Sympathisanten des Judentums, vgl. Apg 18,7: Titius Iustus) und bekommt deshalb Schwierigkeiten mit der jüdischen Gemeinde, die ihn beim Statthalter Gallio anzeigt (vgl. Apg 18,12–17).
Nach 18 Monaten verließ Paulus von Kenchreae aus Korinth mit dem Schiff in Richtung Ephesus (Apg 18,19).
(2) Die Zusammensetzung der Gemeinde
Zur Größe der Gemeinde: Am Anfang stehen kleine, überschaubare Gruppen (mit ca. 10–20 Personen), die sich in Privathäusern treffen (Hausgemeinden, vgl. z.B. Röm 16,23: Gaius als Gastgeber der ganzen Gemeinde in Korinth). Zahlenmäßig wird man mit ca. 100 Mitgliedern zur Zeit des ersten Aufenthalts des Paulus rechnen können (H.-J. Klauck).
Ihrer religiösen Herkunft nach bildeten Heidenchristen die dominierende Gruppe (vgl. 1Kor 12,2), daneben gab es Judenchristen (z.B. Aquila und Priska) und Gottesfürchtige (z.B. Titius Iustus).
In ihrer sozialen Schichtung bietet die Gemeinde einen Querschnitt durch die antike Stadtgesellschaft: Vertreter der vermögenden Ober- und Mittelschicht (z.B. Röm 16,23: Stadtkämmerer Erastus), Handwerker, Lohnarbeiter, Sklaven und Freigelassene.
1.3 Der Fragebrief aus der Gemeinde
Die Korinther schrieben einen Brief, in dem sie Anfragen an Paulus richten (vgl. 1Kor 7,1). Dieser so genannte »Fragebrief« ist nicht erhalten.
Allerdings lassen sich aus dem Antwortbrief des Paulus auf dieses Schreiben der Korinther indirekt Themen und Fragen erschließen, um die es den Korinthern ging: An mehreren Stellen taucht nämlich die stereotype Einleitungsformel »was aber (das Thema) … betrifft …« (griech. περὶ δέ/peri de), mit der Paulus formal auf diese Anfragen Bezug nimmt. Im Einzelnen zeigen sich hier z.T. Schwierigkeiten, die sich für eine junge christliche Gemeinde durch das hellenistische Umfeld und die entsprechende Prägung ihrer Glieder ergaben:
- Ehe und Ehelosigkeit (1 Kor 7,1);
- Jungfrauen (1 Kor 7,25);
- Götzenopferfleisch (1 Kor 8,1);
- Geistesgaben (1 Kor 12,1);
- Kollekte (1 Kor 16,1);
- Apollos (1 Kor 16,12).
Ob wirklich alle Themen aus dem Fragebrief stammen, ist umstritten. Vor allem zu Kollekte und Apollos, zwei nur knapp behandelten Fragen, bleibt der Befund unsicher.
Der 1. Korintherbrief ist zu großen Teilen die Antwort auf die Fragen in dem Brief aus der Gemeinde. Daneben ist er auch veranlasst durch mündlich überbrachte Nachrichten über kritikwürdige Entwicklungen in der Gemeinde. Paulus äußert sich gefragt und ungefragt. Das hier interessierende Thema der Gemeinde als Leib Christi bringt Paulus wohl im Rahmen der Antwort auf eine Anfrage ein, nämlich die nach den Geistesgaben.
2. »Leib Christi« als ekklesiologische Leitmetapher
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2.1 Abgrenzungen
(1) Christus nicht als Haupt des Leibes
Anders als Kolosser- und Epheserbrief spricht Paulus selbst nicht von Christus als Haupt des Leibes. In den beiden deuteropaulinischen Briefen hat die Leib-Metaphorik einen anderen religionsgeschichtlichen Hintergrund: die Vorstellung vom Kosmos als Leib mit einem göttlichen Haupt.
(2) Zwei verschiedene Redeweisen von »Leib«
Paulus kann zum einen die Gemeinde mit einem Leib vergleichen (sie ist »wie ein Leib«: 1Kor 12,12; Röm 12,4), zum andern kann er aber auch sagen, die Glaubenden seien der Leib Christi: »Ihr seid Christi Leib«. In beiden Fällen handelt es sich um metaphorische Sprache, denn mit »Leib Christi« wird nicht das bezeichnet, was aus der Alltagswelt als Leib bekannt ist.
Der Unterschied zwischen den Formulierungen mit »wie« und »ist« hat dennoch Bedeutung. Paulus macht in den »ist-Aussagen« die Zugehörigkeit der Glaubenden zu Christus deutlich. In der Rede vom Leib Christi drückt sich der gemeinschaftliche Aspekt der Christus-Teilhabe aus, die Tatsache, dass die Glaubenden in eine reale Gemeinschaft mit Christus aufgenommen sind. Im Blick auf die Einzelnen wird dies besonders im Zusammenhang mit der Taufe zum Ausdruck gebracht (Teilhabe am Geschick Jesu: s. Röm 6,1–14) oder auch in Aussagen, die auf das Sein »in Christus« abheben.
(3) Religionsgeschichtlicher Hintergrund
Kontrovers diskutiert wird die Frage, wie das Leib-Christi-Motiv religionsgeschichtlich herzuleiten ist. Nach James Dunn kommen allein zwei Optionen in Frage:
- Die Herleitung aus der Abendmahlsüberlieferung. Dafür ließe sich anführen: Paulus stellt eine enge Verbindung her zwischen dem gebrochenen Brot, Symbol für Jesu Leib, und der Anwendung auf die Mahlteilnehmer, die als ein Leib bezeichnet werden (1Kor 10,16f.).
- In der hellenistischen Umwelt war die Leib-Metapher durchaus bekannt zur Bezeichnung eines einheitlichen Ganzen, das aus vielen Gliedern besteht. Diese Vorgabe könnte Paulus weiterentwickelt haben zu einer Vorstellung, die die Gemeinde im Rahmen des Teilhabe-Gedankens als Leib Christi sieht.
Mehr spricht für die zweite Möglichkeit: Die Argumentation des Paulus in 1Kor 10 scheint schon das Leib-Konzept vorauszusetzen, und in 1Kor 12 findet sich kein Hinweis auf das Sakrament. Deshalb dürfte die Abendmahlstradition mit dem eucharistischen Bezug von »Leib« nicht der entscheidende Ansatzpunkt für die ekklesiologische Metapher sein.
2.2 Die verschiedenen Aspekte der paulinischen Rede vom »Leib Christi«
Paulus spricht von der Kirche als »Leib Christi« vorwiegend im Zusammenhang von Taufe und Abendmahl.
(1) Zur Abendmahlstradition (1Kor 10,16f.)
»Leib Christi« meint hier zunächst das im Abendmahl gegessene Brot, das in Jesu Todesschicksal einbezieht.
Paulus verbindet diese Vorstellung mit der Rede von der Kirche als Leib Christi: Das gemeinsame Essen des einen Brotes führt zu leiblicher Einheit der Mahlteilnehmer; und insofern das im Abendmahl gegessene Brot »Leib Christi« ist, vollzieht sich erneut und bestätigt sich die Eingliederung in den Christusleib, den die Kirche darstellt (10,17).
Diese Unterscheidung zeigt: Christus ist der Kirche vorgeordnet. Die Kirche ist nicht im Kreuzesleib Jesu vorgebildet; sie wird vielmehr vom Erhöhten nachträglich am Kreuzesgeschehen beteiligt, dem Gekreuzigten gleichgestaltet, um in einer derart vom Kreuz her bestimmten Existenz das Handeln Gottes im Kreuz zu verkünden (Ernst Käsemann).
(2) Zur Taufe (1Kor 12,13)
Die Glaubenden sind in den einen Leib hineingetauft. In dieser Formulierung bestätigt sich die genannte Vorordnung Christi vor der Kirche. Der Leib entsteht nicht durch Zusammenfügung der verschiedenen Glieder, sondern besteht vor ihnen. Durch die Taufe werden die Glaubenden in diesen Leib eingefügt.
Diese Argumentation setzt allerdings voraus, dass in 1Kor 12,13 εἰς ἓν σῶμα zu übersetzen ist: »in einen Leib getauft«. Das ist umstritten. Vorgeschlagen wird auch die Übersetzung: »zu einem Leib getauft«. Sprachlich ist die Streifrage nicht zu entscheiden. Paulus wollte aber kaum ausdrücken, der Leib Christi werde erst durch die Glieder gebildet (diese Konsequenz legt sich bei der Übersetzung mit »zu« nahe). Dies ergibt sich nicht nur aus den oben besprochenen Aussagen zur Abendmahlstradition. Unmittelbar vor 1Kor 12,13 hat er im Rahmen der Leib-Metaphorik auffallend personal formuliert: »Wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat … so auch der Christus«. Dann dürfte er nicht daran denken, dass der Leib erst in der Aufnahme der einzelnen Glieder entsteht.
Der Begriff »Leib Christi« selbst verdeutlicht diese christologische Blickrichtung. Es wird nicht vom Leib der Kirche gesprochen. Es geht nicht um den Leib einer Gemeinschaft, sondern darum, dass eine Gemeinschaft (die Kirche) der Leib eines Einzelnen (Christus) ist.
Zwar ist die Kirche gedacht als Leib des erhöhten, himmlischen Christus, doch ergibt sich daraus für Paulus keine triumphalistische Sicht der Kirche. Dagegen spricht
- die Verbindung mit dem Kreuz(esleib) – s. 1Kor 10,16f.;
- der Kontext der Aussagen, der gegen eine enthusiastische Theologie gerichtet ist: Der Leib ist zum Dienst gesetzt.
Deshalb erscheint die Rede von der Kirche als Leib Christi allein im Zusammenhang von Mahnungen: Das Sein im Christusleib muss gelebt werden (v.a. im Blick auf die Einheit).
(3) Aufhebung von Unterschieden
Das Glied-Sein am Leib Christi bedeutet für die Glaubenden, dass die in der Welt geltenden Unterschiede aufgehoben sind: Physische und soziale Unterschiede werden zwar in ihrer Existenz nicht bestritten, sie gelten in der Kirche aber nicht mehr (Gal 3,28; 1Kor 12,13).
So erscheint die Kirche als Leib Christi als eine Gemeinschaft, in der neue Kennzeichen der Identität und der Abgrenzung wirken. Die Identität der Gemeinschaft der Glaubenden als Leib wird (anders als in der politisch-gesellschaftlichen Verwendung der Leib-Metapher) nicht durch geographische Lage oder politische Loyalität bestimmt, sondern durch die gemeinsame »Loyalität« zu Christus (James Dunn).
3. Zur paulinischen Gemeindeorganisation
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3.1 Keine feste Ämterstruktur
(1) Autorität durch Engagement
Charismatische Struktur der Gemeinde heißt für Paulus nach dem zuletzt Gesagten also nicht, dass in ihr keine organisatorischen, gemeindeleitenden Funktionen wahrgenommen würden. Diese Funktionen sind aber nicht eingegliedert in eine feste Ämterstruktur. Autorität, die in paulinischen Gemeinden wahrgenommen wird, ist persönliche Autorität, und nicht durch ein Amt vermittelt, dessen Konturen unabhängig vom Inhaber gegeben sind und in das nach bestimmten Regelungen eingesetzt wird.
Dies kann man sehr deutlich am Ende des 1. Korintherbriefs erkennen. Paulus fordert dort dazu auf, sich dem Stephanas und seinem Haus unterzuordnen. Nicht weil ihm eine bestimmte amtliche Position zukäme. Er ist vielmehr der Erstberufene der Gemeinde und setzt sich im Dienst für die Gemeinde ein (s. 1Kor 16.15–18). Wer sich derart engagiert (nicht: wer als Leiter eingesetzt ist), hat auch ein Recht auf Anerkennung.
(2) Entwicklung in nachpaulinischer Zeit
Eine Ämterstruktur lässt sich auch nicht aus der Leib-Metapher ableiten. Man muss diesbezüglich zwischen Paulus und der späteren Rezeptionsgeschichte unterscheiden. Schon der Kolosser- und der Epheserbrief sprechen anders, wenn auch vergleichsweise noch recht paulinisch, von der Kirche als Leib. Ignatius von Antiochien setzt die Leib-Metapher im Rahmen einer Gemeindeordnung ein, die von der Leitung durch einen Bischof bestimmt ist.
So zeigt sich, wie Metaphern weiterentwickelt werden können. Bei Paulus selbst hat die Rede vom Leib (Christi) noch kein hierarchisches Moment.
3.2 Hausgemeinden
Im Blick auf die Frage der äußeren Organisation der frühchristlichen Gemeinden wird die Bedeutung der Hausgemeinde auch für die paulinischen Gemeinden diskutiert. Paulus liefert dafür einige Hinweise, wenn er an einigen Stellen hinsichtlich namentlich benannter Personen von der »Gemeinde in ihrem Haus« spricht.
Dieser Ausdruck wird verbunden mit Priska und Aquila (1Kor 16,19f.; Röm 16,4f.) und Philemon (Phlm 1f.). Auch in 1Kor 16,15 könnte auf eine Gemeinde im Haus des Stephanas angespielt sein, in Röm 16,14f. sind möglicherweise ebenfalls Hausgemeinden gemeint.
Diesen Hausgemeinden wäre dann die »ganze Gemeinde« (1Kor 14,23; Röm 16,23) zuzuordnen als das Gesamt der Hausgemeinden an einem Ort, deren (Voll-)Versammlung von den Versammlungen der einzelnen Hausgemeinden zu unterscheiden wären.
H.-J. Klauck urteilt: »Für die Zeit des Urchristentums kann man die Bedeutung der Hausgemeinden kaum hoch genug veranschlagen. Die Hausgemeinde war, so dürfen wir zusammenfassend sagen, Gründungszentrum und Baustein der Ortsgemeinde, Stützpunkt der Mission, Versammlungsstätte für das Herrenmahl, Raum des Gebetes, Ort der katechetischen Unterweisung, Ernstfall der christlichen Brüderlichkeit. Die Kirche des Anfangs hat sich ›hausweise‹ konstituiert« (Hausgemeinde 101f.)
Kritisch zu dieser Rekonstruktion äußert sich Marlis Gielen. Ihr zufolge meint die Wendung »Gemeinde in ihrem Haus« die ganze Ortsgemeinde, die sich in einem bestimmten Haus versammelt. Die Formulierung »die ganze Gemeinde« erscheine nie als Gegenbegriff zur »Hausgemeinde« und diese Gegenüberstellung wäre aus Sicht der Adressaten auch nicht verständlich gewesen.
3.3 Zur Rolle von Frauen in paulinischen Gemeinden
In 1Kor 14,34f. begegnen die Worte, die vor allem Paulus den Vorwurf eingetragen haben, er sei ein Frauenfeind:
»(Wie in allen Gemeinden der Heiligen) sollen die Frauen in den Gemeinde(versammlunge)n schweigen; denn es ist ihnen nicht erlaubt zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. Wenn sie aber etwas lernen wollen, sollen sie zu Hause ihre Männer fragen. Denn es ist schändlich für eine Frau, in der Gemeinde(versammlung) zu reden.«
(1) Ein nachpaulinischer Eintrag
Es gibt starke Argumente für die Annahme, dass diese Passage dem 1. Korintherbrief später hinzugefügt wurde, und nicht von Paulus stammt.
- Einige Textzeugen weichen in der Einordnung ab und setzen die Passage hinter den Vers 40. Die Verse 14,34f. könnten deshalb ursprünglich am Rand, neben dem eigentlichen Text gestanden haben (Randglosse). In einem Zweig der Textüberlieferung wäre sie etwas anders in den Haupttext eingeordnet worden als im Hauptstrom.
- Die Verse 14,34f. passen schlecht in den Gedankengang: Der Übergang von V.33 zu V.34 ist durch die Doppelung von »Gemeinde« recht hart; vor allem der Übergang von V.35 zu V.36 ist problematisch (was soll die Frage »oder ist das Wort Gottes von euch ausgegangen oder allein zu euch gelangt?« mit dem Schweigen der Frauen zu tun haben?)
- Inhaltlich sind die beiden Verse isoliert. Zuvor geht es um Zungenrede und Prophetie, und auch danach erscheinen wieder diese Hauptthemen (VV.37.39). Was Paulus zu Prophetie und Zungenrede sagt, bezieht sich auf einen geordneten Ablauf (VV.27–32), nicht auf eine grundsätzlich zu beachtende Rollenzuschreibung. Das zuvor genannte Schweigen hat also einen ganz anderen Sinn: Man soll schweigen, wenn andere reden.
- Der Abschnitt bietet einige Wendungen, die sprachlich auffallen und einen eher unpaulinischen Eindruck machen.
- Der stärkste Einwand gegen die Ursprünglichkeit ergibt sich aus dem Widerspruch zu 1Kor 11,5. Dort geht Paulus selbstverständlich davon aus, dass Frauen in der Gemeindeversammlung prophetisch reden. Deutlich gesagt: Er erlaubt es nicht – aber nicht weil er solches Reden für verboten hielte, sondern weil es hier nichts zu erlauben gibt. Das prophetische Reden von Frauen ist vorausgesetzte Tatsache.
Paulus bezeugt in 1Kor 11 durchaus patriarchale Denkmuster (Mann als Bild und Abglanz Gottes, Frau als Abglanz des Mannes: 11,7; Erschaffung der Frau aus dem Mann und um des Mannes willen: 11,8f. [s. Gen 2]). Aber dies führt nicht dazu, dass Frauen in der Gemeindeversammlung schweigen müssten. Sie sollen nur, wenn sie prophetisch sprechen, dies mit verhülltem Kopf tun (sei es, dass eine Kopfbedeckung oder langes oder hochgestecktes Haar gemeint ist).
Auch die Grußliste in Röm 16 bestätigt das Bild aktiver Mitarbeit von Frauen.
(2) Das Motiv des Eintrags
1Tim 2,11–15 begegnet, bis in den Wortlaut vergleichbar, in einem pseudepigraphischen Paulusbrief die Rollenzuschreibung, die auch 1Kor 14,34f. vertritt. Es ist also ein Motiv für den Einschub erkennbar: Angleichung an die Frauenrolle der späteren Zeit (1Tim gehört zu den Pastoralbriefen, die gewöhnlich um die Jahrhundertwende oder später datiert werden).
B. Ausgangstext: Die paulinische Gemeindevorstellung
nach 1Kor 12
Das Sein im Leib Christi hat auch eine konkrete, sichtbare Dimension: Die Glaubenden versammeln sich an einem Ort als Gemeinde. Auch in diesem Zusammenhang spricht Paulus vom Leib. Deshalb fügen sich die Aussagen des Paulus zur Gemeindestruktur in die Leib-Christi-Vorstellung ein.
1. Kontext und Aufbau
Paulus antwortet mit den Ausführungen zu den Geistesgaben (πνευματικά) wahrscheinlich auf eine Frage aus der Gemeinde (s.o. A. 1.3). Er setzt in 12,1 neu ein, nachdem er zuletzt Fragen zur gottesdienstlichen Versammlung besprochen hatte (11,2–16.17–34). Das in Kap. 12 Behandelte führt nicht fort, was zuvor Thema war. Man kann einen inneren Zusammenhang aber insofern erkennen, als auch die Ausführungen zu den Gnadengaben auf Fragen zur Gestaltung der Gemeindeversammlung zuläuft, wenn Prophetie und Zungenrede in diesem Rahmen einander gegenübergestellt werden (Kap. 14).
Paulus scheint auf eine konkrete Krise in der korinthischen Gemeinde reagiert zu haben. Die Hochschätzung der Glossolalie (unverständliche Rede »in Zungen«) drohte wohl zu einer Spaltung der Gemeinde in Pneumatiker und Minderbegabte zu führen.
Gliedern lässt sich die Passage in vier Abschnitte:
- VV.1–3: Einführung des Themas und grundsätzliche Aussage zur Existenz im Geist
- VV.4–11: Die Verschiedenheit der Gaben – im einen Geist
VV.4–6: Das Prinzip der Verteilung
V.7: Die Funktion der Charismen
VV.8–10: Beispiele für verschiedene Charismen
V.11: Fazit: Der eine Geist teilt zu, wie er will
- VV.12–27: Die Leib-Metapher: Pluralität und Solidarität als Wesensmerkmale der Gemeinde
VV.12f.: Einführung der Leib-Metapher
VV.14–19: Entfaltung I: Die notwendige Vielfalt der Glieder
VV.20–26: Entfaltung II: Das notwendige Zusammenspiel der Glieder
V.27: Fazit im Blick auf die Gemeinde als Leib Christi
- VV.28–31a: Anwendung auf die unterschiedlichen Funktionen in der Gemeinde
Mit V.31a endet der Abschnitt. Der folgende Satz (»Ich zeige euch einen Weg noch weit darüber hinaus«) leitet über zum sogenannten »Hohenlied der Liebe« in Kap. 13.
2. Auslegung
VV.1–3
1 Was aber die geistlichen [Gaben] betrifft, Brüder, so will ich nicht, dass ihr ohne Kenntnis seid. 2 Ihr wisst, dass ihr, als ihr zu den Heiden gehörtet, zu den stummen Götzenbildern hingezogen, ja, fortgerissen wurdet. 3 Deshalb tue ich euch kund, dass niemand, der im Geist Gottes redet, sagt: Fluch über Jesus! und niemand sagen kann: Herr Jesus! außer im Heiligen Geist.
Paulus führt das Thema (wohl angestoßen durch den Fragebrief) ein und markiert die derzeitige Existenz aller Glaubenden in der Gemeinde als fundamentalen Wandel im Vergleich zur Vergangenheit: Sie wurden früher von den Götzen angezogen, geradezu fortgerissen, das aber ist nun vorbei. Alle Glaubenden sind geprägt durch Geist Gottes. Dessen Kennzeichen ist das Bekenntnis zu Jesus als Herrn, also nicht nur spektakuläre Phänomene wie die Zungenrede. Alle, die sich zu Jesus bekennen, sind Geistbegabte. Auf dieser Grundlage kommt Paulus dann auf die verschiedenen Gnadengaben (Charismen) zu sprechen.
VV.4–11
4 Es gibt aber Verschiedenheiten von Gnadengaben, aber [es ist] derselbe Geist; 5 und es gibt Verschiedenheiten von Diensten, und [es ist] derselbe Herr; 6 und es gibt Verschiedenheiten von Wirkungen, aber [es ist] derselbe Gott, der alles in allen wirkt. 7 Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes zum Nutzen gegeben. 8 Dem einen wird durch den Geist das Wort der Weisheit gegeben, einem anderen aber das Wort der Erkenntnis nach demselben Geist; 9 einem anderen aber Glauben in demselben Geist, einem anderen aber Gnadengaben der Heilungen in dem einen Geist, 10 einem anderen aber [Wunder-]Kräfte, einem anderen aber Weissagung, einem anderen aber Unterscheidungen der Geister; einem anderen aber [verschiedene] Arten von Sprachen, einem anderen aber Auslegung der Sprachen. 11 Dies alles aber wirkt ein und derselbe Geist und teilt jedem besonders aus, wie er will.
Anders als in der Themenangabe in 12,1 verwendet Paulus ab V.4 nicht mehr den Begriff »Geistesgaben« (πνευματικά/pneumatika). Dies könnte zwei Gründe haben:
- Dieser Ausdruck war in der korinthischen Gemeinde schon mit einem bestimmten Verständnis besetzt, das Paulus zurückweisen will.
- »Gnadengabe« (χάρισμα/charisma) ist gewählt, um den Geschenkcharakter der Gaben des Geistes zu betonen.
In VV.4–6 benennt Paulus das Prinzip der Verteilung von Gnadengaben. Er hebt zum einen die Vielfalt der Gnadengaben stark hervor, diese Vielfalt ist aber auf den einen Geist bezogen. Die von Paulus angezielte Sinnspitze ist:
►Der eine Geist verteilt verschiedene Gaben und äußert sich nicht nur in einer bestimmten Form.
Noch ehe Paulus verschiedene Charismen nennt, führt er aus, welchen Sinn sie haben: Sie werden gegeben »zum Nutzen« (V.7). Wie an der Frage der Auferbauung der Gemeinde die christliche Freiheit ihre Grenze findet (s. 1Kor 8 zur Frage des Götzenopferfleisches; s.a. 6,12; 10,23), so gilt auch für die Charismen dieses Kriterium. Nicht alle Charismen haben für die Gemeinde dieselbe Bedeutung. Dies spielt gerade für die aktuelle Situation in der Gemeinde eine Rolle: Die dort hochgeschätzte Zungenrede steht wohl am Ende der Liste von Charismen, weil ihr Nutzen für andere begrenzt ist.
Die Liste der verschiedenen Gnadengaben in VV.8–10 lässt sich folgendermaßen gruppieren:
- »Wort der Weisheit« / »Wort der Erkenntnis«,
- Glaube / Heilungen / (Wunder-)Kräfte /
- Prophetie und Unterscheidung der Geister / Arten von Zungen und Auslegung der Zungen.
Die erste Gruppe (aus zwei Gliedern) wird durch den Bezug auf das Wort (λόγος) gebildet. Es folgen dann drei Charismen, die zu besonderen Taten befähigen, ehe ein Viererblock folgt, in dem jeweils zwei Gnadengaben einander zugeordnet werden. Für diese Abgrenzung der dritten Gruppe spricht – neben der paarweisen Zuordnung –, dass Prophetie und Zungenrede (samt der »Unterscheidung« und der Auslegung) in Kap. 14 ausführlich behandelt werden.
Zur zweiten Gruppe ist vorausgesetzt: Das Charisma des Glaubens (V.9) ist nicht im Sinne des von allen geteilten Glaubens zu verstehen, sondern bezogen auf besondere, wunderwirkende Glaubenskraft.
Orientiert man sich an der Verwendung von ἄλλος und ἕτερος (beide zu übersetzen mit: „ein anderer“), ergäbe sich eine größere Mittelgruppe (+ Prophetie und Unterscheidung der Geister; aber ohne „Glaube“) sowie die Sonderstellung der Zungenrede und ihrer Auslegung als eigene Gruppe. Wahrscheinlich ist aber der Wechsel von ἄλλος und ἕτερος nur stilistische Varianz ohne gliedernde Funktion.
► Zu einzelnen Charismen
Wort der Weisheit / Wort der Erkenntnis: Eine Differenzierung fällt nicht leicht, durch die Zuordnung »der eine – der andere« scheint Paulus aber an zwei voneinander abgrenzbare Größen zu denken. Kann im Blick auf das »Wort der Weisheit« ein Bogen zum Beginn des Briefes geschlagen werden? In 2,6–16 wird Weisheit besonders mit dem Kreuz verbunden. Geht es also vor allem um die Entfaltung der Offenbarung Gottes im Kreuz Christi? Der Bezug auf das Wort (λόγος) könnte an das Lehren denken lassen (s. Röm 12,7), im Fall des »Wortes der Erkenntnis« vielleicht grundsätzlich die Funktion des Lehrers bezeichnen.
Glaube: Da der Kontext von der Unterschiedlichkeit der Gaben bestimmt ist, dürfte Paulus nicht grundsätzlich an den Glauben denken, der durch das Bekenntnis zum Herrn Jesus bestimmt ist. Dass es Paulus hier darauf ankomme, den (allgemein christlichen) Glauben ausdrücklich mit dem Geist zu verbinden, leuchtet als Intention nicht recht ein: Das hat er faktisch schon in 12,3 gesagt. Es scheint also doch um eine nicht allen Glaubenden zuzuschreibende Gestalt des Glaubens zu gehen, eine besondere Glaubenskraft – worin auch immer sie besteht.
Wie sich Heilungen und (Wunder-)Kräfte genau voneinander abgrenzen, ist nicht eindeutig zu erheben. Das zweite Charisma lautet im Griechischen ἐνεργήματα δυνάμεων (»Wirkkräfte von Machttaten«) und muss sich nicht nur auf Heilungen und Exorzismen beziehen (so die synoptische Konnotation von δυνάμεις). A. Lindemann denkt an »religiös begründete Machterweise«.
Prophetie: Sie richtet sich nicht nur auf das Zukünftige, sondern bezeichnet »das Sprechen im Namen eines anderen« (J. Kremer), nach 14,3 ein aufbauendes, ermahnendes und tröstendes Sprechen. Es verdankt sich einer geistgewirkten Offenbarung (s.a. 14,29f.).
Unterscheidung der Geister: Gewöhnlich wird diese Gabe verstanden als Fähigkeit zur Prüfung, ob ein Wort als Äußerung des Gottesgeistes gelten kann (oder auf einen widergöttlichen Geist zurückgeht). Es wird auch vertreten, das Charisma richte sich auf die Deutung prophetischer Worte, nicht auf deren Prüfung. Dagegen spricht: Prophetische Rede ist anders als die Zungenrede verständlich und ist nicht auf Auslegung angewiesen (s. 1Kor 14). Auch dürfte das zugrundeliegende griechische Wortfeld (διακρίσις, διακρίνειν) bei Paulus sonst mit dem Gedanken der Prüfung verbunden sein.
Arten von Zungen/Auslegung der Zungenrede: Gemeint ist hier nicht fremdsprachliches Reden, sondern unverständliches, ekstatisches, der bewussten Kontrolle entzogenes Reden, »das durch seine phonetische Strukturierung und durch pseudolinguistische Elemente wie eine richtige Sprache wirkt, ohne semantisch als solche identifizierbar zu sein« (H.-J. Klauck). Glossolalie braucht Übersetzung, um verständlich zu werden. Hier nennt Paulus diese Gnadengabe (wie alle anderen) nur kurz. Sein besonderes Interesse an der prophetischen Rede zeigt sich noch nicht, sondern wird erst in Kap. 14 entfaltet. Die Reserve des Paulus deutet sich aber in der Schluss-Stellung der »Glossolalie« an (auch in 12,30).
Aufs Ganze gesehen nimmt Paulus eine entscheidende Korrektur an der in der Gemeinde von Korinth vertretenen Position vor: Er verweist auf die untergeordnete Bedeutung der dort hoch bewerteten Zungenrede und stellt die prinzipielle Vielfalt der vom Geist bewirkten Gaben heraus. Dies hält er zum Schluss in einem Fazit in V.11 ausdrücklich fest: Es ist der eine Geist, der diese erwähnten unterschiedlichen Gaben frei verteilt (»wie er will«).
Die Gemeinde ist prinzipiell plural, und sie ist prinzipiell solidarisch – so kann man mit einer glücklichen Formulierung von P. Hoffmann den Grundsatz der Vielfalt der Gnadengaben und das Kriterium der gegenseitigen Auferbauung umschreiben.
VV.12–27
12 Denn wie der Leib einer ist und viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich viele, ein Leib sind: so auch der Christus. 13 Denn in einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft worden, es seien Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt worden. 14 Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. 15 Wenn der Fuß spräche: Weil ich nicht Hand bin, gehöre ich nicht zum Leib: gehört er deswegen nicht zum Leib? 16 Und wenn das Ohr spräche: Weil ich nicht Auge bin, gehöre ich nicht zum Leib: gehört es deswegen nicht zum Leib? 17 Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo wäre das Gehör? Wenn ganz Gehör, wo der Geruch? 18 Nun aber hat Gott die Glieder gesetzt, jedes einzelne von ihnen am Leib, wie er wollte. 19 Wenn aber alles ein Glied wäre, wo wäre der Leib? 20 Nun aber sind zwar viele Glieder, aber ein Leib. 21 Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht; oder wieder das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht; 22 sondern gerade die Glieder des Leibes, die schwächer zu sein scheinen, sind notwendig; 23 und die uns die weniger ehrbaren am Leib zu sein scheinen, die umgeben wir mit reichlicherer Ehre; und unsere nichtanständigen haben größere Wohlanständigkeit; 24 unsere wohlanständigen aber brauchen es nicht. Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dabei dem Mangelhafteren größere Ehre gegeben, 25 damit keine Spaltung im Leib sei, sondern die Glieder dieselbe Sorge füreinander hätten. 26 Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; oder wenn ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder mit. 27 Ihr aber seid Christi Leib, und einzeln genommen, Glieder.
Das Thema von Einheit und Vielfalt wird in VV.1f. in einem Vergleich (»wie«: καθάπερ) nun auf das Bild des Leibes bezogen. Die Rede von Einheit (ἕν) war zuvor auf den Geist bezogen, im Zusammenhang der Leib-Metapher geht es um das notwendige Zusammenspiel der verschiedenen Glieder, wie Paulus nachfolgend entfaltet. Auch der Bezug auf den einen Geist bleibt allerdings erhalten, wie V.13 deutlich macht: Die Aufnahme in den einen Leib wirkt der eine Geist (s. zu diesem Vers auch oben A.2.2, Abschnitte (2) und (3)).
In zwei Durchgängen entfaltet Paulus das Bild vom Leib und zeigt, wie Vielfalt und Verwiesensein aufeinander zusammengehören. Das Prinzip der Pluralität wird in VV.14–19 an den Gegebenheiten des menschlichen Körpers gezeigt: Dieser setzt sich aus unterschiedlichen Teilen zusammen, beispielhaft gezeigt an Fuß, Hand, Ohr und Auge. In ihrer Unterschiedlichkeit machen sie erst den Leib aus, gebündelt inV.19: »Wenn alles ein Glied wäre, wo wäre der Leib?« In V.18 hebt Paulus auf das Wirken des Schöpfers ab, der den Leib in dieser Vielfalt der Glieder geschaffen hat. Man kann annehmen, dass er dies im Blick auf die angezielte Sache betont: die von Gott gewollte Vielfalt der Gnadengaben. Darauf weist eine Parallelität zu V.11. Dort hieß es, dass der Geist einem jeden zuteilt »wie er will«; so hat auch der Schöpfer jedes einzelne Glied am Leib bestimmt, »wie er wollte« (allerdings im Griechischen variiert: καθὼς ἠθέλησεν, nicht καθὼς βούλεται).
In VV.20–26 wird dann das Prinzip der Solidarität entfaltet, V.20 kann als Übergang angesehen werden, da auch auf die Vielfalt abgehoben wird. Sie wird aber bereits der Einheit des Leibes zugeordnet, so dass die Aussage auf das Folgende ausgerichtet ist. Paulus führt aus, dass kein Teil des Organismus sich von anderen lossagen kann, beispielhaft durchgeführt Auge, Hand, Kopf und Fuß. An der zweiten Gegenüberstellung wird deutlich, dass das Bild vom Leib nicht geprägt ist von der Sonderstellung des Hauptes, das dann mit Christus identifiziert würde (so Kol 1,18; Eph 4,15). Der Kopf ist ein Körperteil wie andere auch, das sich nicht aus dem Zusammenspiel aller Teile heraushalten kann. Auch in diesem Abschnitt hebt Paulus wieder auf das Schöpferwirken ab (VV.24f.), der in den Gegebenheiten des Leibes gerade das Schwache stärken wollte, damit es keine Spaltung im Leib gebe. Auch hier hat Paulus die Realität der Gemeinde im Blick, nicht nur das Bild vom Leib (s.o. zu V.18).
Die Leib-Metapher ist in der Antike ein durchaus bekanntes Motiv. Neben mythologisch-kosmologischem Gebrauch ist sie auch verwendet worden, um die Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft zu beschreiben. Am bekanntesten ist wohl die Fabel, mit der Menenius Agrippa die Plebejer beruhigt haben soll, die gegen die herrschenden Patrizier revoltiert hatten. Sie lässt sich heranziehen, um das Profil der paulinischen Aussagen zu schärfen.
| Fabel des Menenius Agrippa | 1Kor 12,14–26 |
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»Zu der Zeit, als im Menschen nicht wie jetzt alles im Einklang miteinander war, sondern von den einzelnen Gliedern jedes für sich überlegte und für sich redete, hätten sich die übrigen Körperteile darüber geärgert, dass durch ihre Fürsorge, durch ihre Mühe und Dienstleistung alles für den Bauch getan werde, dass der Bauch aber in der Mitte ruhig bleibe und nichts anderes tue, als sich der dargebotenen Genüsse zu erfreuen. [32,10] Sie hätten sich daher verschworen, die Hände sollten keine Speise mehr zum Munde führen, der Mund solle, was ihm dargeboten werde, nicht mehr aufnehmen und die Zähne sollten nicht mehr kauen. Indem sie in diesem Zorn den Bauch durch Hunger zähmen wollten, habe zugleich die Glieder selbst und den ganzen Körper schlimmste Entkräftung befallen (ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem venisse). [32,11] Da sei dann klar geworden, dass auch der Bauch eifrig seinen Dienst tue (inde apparuisse ventris quoque haud segne ministerium esse) und dass er nicht mehr ernährt werde als dass er ernähre, indem er das Blut, von dem wir leben und stark sind, gleichmäßig auf die Adern verteilt, in alle Teile des Körpers zurückströmen lasse, nachdem es durch die Verdauung der Nahrung seine Kraft erhalten habe.« Livius, Ab urbe condita II 32,9–12(Übersetzung H.J. Hillen, zitiert nach: Neuer Wettstein II/1 364). |
Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. 15Wenn der Fuß spräche: Weil ich nicht Hand bin, gehöre ich nicht zum Leib: gehört er deswegen nicht zum Leib? 16Und wenn das Ohr spräche: Weil ich nicht Auge bin, gehöre ich nicht zum Leib: gehört es deswegen nicht zum Leib? 17Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo wäre das Gehör? Wenn ganz Gehör, wo der Geruch? 18Nun aber hat Gott die Glieder gesetzt, jedes einzelne von ihnen am Leib, wie er wollte. 19Wenn aber alles ein Glied wäre, wo wäre der Leib? 20Nun aber sind zwar viele Glieder, aber ein Leib. 21Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht; oder wieder das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht; 22sondern gerade die Glieder des Leibes, die schwächer zu sein scheinen, sind notwendig; 23und die uns die weniger ehrbaren am Leib zu sein scheinen, die umgeben wir mit reichlicherer Ehre; und unsere nichtanständigen haben größere Wohlanständigkeit; 24unsere wohlanständigen aber brauchen es nicht. Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dabei dem Mangelhafteren größere Ehre gegeben, 25damit keine Spaltung im Leib sei, sondern die Glieder dieselbe Sorge füreinander hätten. 26Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; oder wenn ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder mit. (Übersetzung der Elberfelder Bibel) |
Gemeinsamkeiten mit 1Kor 12:
- Eine Gemeinschaft wird mit einem Leib verglichen;
- die Glieder an diesem Leib stellen unterschiedlich gewertete Glieder der menschlichen Gemeinschaft dar;
- herausgestellt wird die Notwendigkeit des Zusammenspiels der einzelnen Glieder.
Unterschiede zu 1Kor 12:
Die obige Fabel will die schwächeren Glieder der Gemeinschaft des römischen Staates davon zu überzeugen, dass sie auf die herrschende Aristokratie angewiesen sind. Auch wenn der Magen nur bedient zu werden scheint, tut er doch das Seine zum Erhalt des Leibes, der ohne ihn zerfiele. So gibt es nur die Gegenüberstellung »Magen/übrige Glieder«. Paulus betont dagegen den notwendigen Beitrag jedes einzelnen Gliedes, damit der Leib überhaupt Leib sein kann. Dies zu zeigen ist das Ziel der Ausführungen in 12,14–19: das oben genannte Prinzip der Pluralität.
Entscheidender noch ist der Unterschied zur Fabel des Menenius Agrippa im zweiten Teil des Gedankengangs. In 12,20–26 legt Paulus den Akzent auf das gegenseitige Angewiesensein der einzelnen Glieder des Leibes und dabei vor allem auf die schwächeren bzw. schwächer scheinenden Teile des Organismus. Paulus verweist auf das Verhalten gegenüber den »weniger ehrbaren« Gliedern des Leibes (gemeint sind die Geschlechtsorgane). Deren Zurücksetzung wird kompensiert durch die Bekleidung, die diesen Körperteilen Ehre erweist.
Paulus verwendet diese Metapher also nicht dazu, um die schwächeren Glieder auf ihre Abhängigkeit von den starken hinzuweisen, sondern umgekehrt, um den Starken ihr Angewiesensein auf die Schwachen zu verdeutlichen. Natürlich gilt dieses Abhängigkeitsverhältnis auch umgekehrt; dies zu betonen hat Paulus freilich keinen Grund angesichts der Situation in Korinth. In V.26 wird die Verwendung der Leib-Metapher abgeschlossen, indem die Gemeinde als Raum umfassenden Mitleidens und umfassender Mitfreude gezeichnet wird. Es bestätigt sich, dass ab V.24b die Ausführungen zum Leib die Gemeindewirklichkeit im Blick haben.
Dazu passt, dass Paulus die Adressaten in V.27 direkt anspricht und die Quintessenz zieht aus dem Vergleich der Gemeinde mit einem Körper für die Wirklichkeit der Gemeinde als Leib Christi mit unterschiedlichen Gliedern. Den Gedanken der Vielfalt kann man im Bezug auf die Einzelnen wachgerufen sehen.
VV.28–31a
28 Und die einen hat Gott in der Gemeinde gesetzt erstens zu Aposteln, zweitens [andere] zu Propheten, drittens zu Lehrern, sodann [Wunder-]Kräfte, sodann Gnadengaben der Heilungen, Hilfeleistungen, Leitungen, Arten von Sprachen. 29 Sind etwa alle Apostel? Alle Propheten? Alle Lehrer? Haben alle [Wunder-]Kräfte? 30 Haben alle Gnadengaben der Heilungen? Reden alle in Sprachen? Legen alle aus? 31 Eifert aber um die größeren Gnadengaben
Die Existenz als Leib Christi konkretisiert sich im Blick auf die verschiedenen Dienste in der Gemeinde. Noch einmal kommt Paulus auf die verschiedenen Charismen zu sprechen. Mit »Apostel« nennt er ein nicht an eine bestimmte Ortsgemeinde gebundenes Charisma und erweitert so die Reihe gegenüber 12,8–10. Die Trias »Apostel, Propheten, Lehrer« hebt sich von den übrigen Charismen stilistisch ab: hinsichtlich der personalen Formulierung, der Verwendung von Ordinalzahlen wie auch im Satzbau. Hier dürfte es sich um eine Paulus vorgegebene Tradition handeln.
Leitend ist dieselbe Tendenz, die bislang zu beobachten war. Paulus fasst auch das als Geistesgabe, was zunächst einen eher alltäglichen Eindruck macht und stellt die Zungenrede wiederum an die letzte Stelle. »Gabe des Geistes ist es eben auch, wenn einer den andern zu trösten vermag, ihm ohne Hintergedanken hilft, ihm in ungeheuchelter Liebe, in Freundschaft oder Hochachtung begegnet« (P. Hoffmann). Auch die organisatorischen Begabungen kommen zu ihrem Recht, wenn das Charisma des Leitens erwähnt wird.
Wie der Geschenkcharakter der Charismen mit der Aufforderung, nach den größeren zu streben, zusammengeht, sagt Paulus nicht. Offensichtlich schließt sich beides für ihn nicht aus. Vielleicht ist V.31a ein letztes Signal gegen die Hochschätzung der Glossolalie in der Gemeinde. Mit dem »Hohelied der Liebe« (Kap. 13) weist er einen Weg, der über die verschiedenen Gnadengaben hinausgeht und die Einheit der Gemeinde stärkt.
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